Bildungswissenschafter steuern gegen

Skepsis am Modell "Gesamtschule"

In Sachen gemeinsamer Schule der 10- bis 14- Jährigen sind alte Fronten in Bewegung gekommen. So entsteht der Eindruck, als seien mehr oder weniger alle Bildungsfachleute einer Meinung und steuern euphorisch in Richtung Gesamtschule. Doch es gibt auch unabhängige Bildungswissenschaftler, die diesem Modell skeptisch gegenüberstehen.

Mittagsjournal, 26.06.2010

Bewährte Strukturen zerstört

Der Salzburger Bernhard F. Seyr ist dreifacher Doktor, hat in Salzburg, Linz und München studiert, ist mittlerweile habilitierter Bildungsökonom und lehrt an der Universität Sopron, also Ödenburg. Wenn er von Ungarn aus auf die Bildungslandschaft seines Heimatlandes Österreich blickt kommt er zu einem klaren Schluss: "Ich selbst bin gegenüber der Gesamtschule sehr skeptisch, weil ich meine, dass hier historisch gewachsene und sehr bewährte Strukturen zerstört werden und eine Vermassung, so möchte ich es nennen, stattfindet. Ich bin dezidierter Befürworter eines vielseitigen und vielfältigen Bildungssystems."

Bestehendes System ist "tauglich"

Ein gallisches Dorf der Gesamtschulgegner konstatierte unlängst die Tageszeitung "Die Presse", also eine kleine aber hartnäckige Gruppe von überzeugten Verfechtern des bestehenden Systems von AHS Unterstufe und Hauptschule. Das sei gut, tauglich und ausreichend durchlässig, sagt auch Bernhard Seyr, jeder geeignete Schüler hätte die Möglichkeit nach der Hauptschule in eine weiterführende Höhere Schule zu wechseln. "Wenn sich jemand aus den 'sozial benachteiligten' Schichten sehr bewährt oder es sich um ein helles Köpfchen handelt, kann diese Person genauso die Matura oder ein Studium erreichen", sagt Seyr.

Die Gemeinsame Schule bis 14 ist für Seyr hingegen wie das sprichwörtliche Bett des Prokrustes: "Wo die Leute, die zu klein sind gestreckt werden, und die zu lang sind abgehackt werden. Es wird auf ein einheitliches Niveau, auf eine undifferenzierte Masse hingearbeitet. Ich finde nicht, dass das eine Gesellschaft fördert."

Begabtenförderung als Herausforderung

So scheint es also alles andere als ausgemacht, dass sämtliche österreichische Bildungsexperten auf Gesamtschullinie eingeschwenkt sind. Vor allem die Förderung von besonders begabten Kindern wird in einer gemeinsamen Schule eine Herausforderung sein. Thomas Köhler ist jener Beamte des Wissenschaftsministeriums, der für Begabungs- und Begabtenförderung zuständig ist. Er analysiert, was da in einer Gesamtschule geschehen müsste, wo man doch jeden Schüler individuell zu fördern hätte.

Talentkurse

Da bräuchte es wohl mehr Geld und mehr Lehrer, meint Köhler. Er ist aber Realist genug, um gleich einzuschränken: "Mehr Lehrkräfte würde in Zeiten der budgetären Enge eine große Herausforderung sein. Man soll nichts ausschließen, man soll aber auch nicht unerfüllbare Wünsche an die aktuelle Bildungspolitik stellen. Aus der Sicht der Begabungsforschung und zur optimalen Förderung von begabten Kindern und Jugendlichen soll es sogenannte Neigungskurse, Talentkurse oder Begabungsgruppen, wie immer man sie nennen will, geben. Das heißt, es wird darauf hinauslaufen, dass es zu einer Auflockerung des Klassenverbandes kommt. In dem Sinn, das Gruppen auf Zeit eingerichtet werden, je nach Talent, Begabung und möglichst flexibel."

Eigene Begabtenschulen

Und eigene Schulen für Hochbegabte? Für Talentförderer Thomas Köhler wäre das neben einer Gesamtschule durchaus denkbar. "Die Begabungsforschung sagt nicht, dass es nur eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen in dem Sinn geben soll, das jetzt tatsächlich keine eigenen Schulen für Hochbegabte existieren dürfen. Die Frage ist natürlich, welche Definition man für 'hochbegabt' verwendet, welche Definition man für Begabungen, Talente die in einer gemeinsamen Schule der 10- bis 14-Jährigen angewandt wird, verwendet. Davon hängt das ab", sagt Köhler.

Kampfbereitschaft

Wie auch immer die Zukunft von Privatschulen wäre, für Gesamtschulgegner Bernhard F. Seyr steht fest: "Führt man eine Gesamtschule ein, würde das dazu führen, dass jeder der es sich finanziell leisten kann, seine Kinder in eine Privatschule schicken wird und nicht unter sozial geladenen Verhältnissen aufwachsen sehen will." Mit einem Wort: Das widerständige gallische Bildungsdorf bleibt kampfbereit.