Über Menschenrechte und Armutsbekämpfung

Die unerhörte Wahrheit

Armut ist kein Schicksal, sondern Folge von Menschenrechtsverletzungen. Diese Aussage kommt von Irene Khan, der früheren Generalsekretärin von Amnesty International. In ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Buch geht Khan den Ursachen von Armut nach.

Von Besitzlosigkeit zu Ausgrenzung

Die Zahlen sind ernüchternd: fast eine Milliarde Menschen weltweit leidet an Unterernährung. 2,5 Milliarden leben ohne hygienische sanitäre Einrichtungen, alle 90 Sekunden stirbt eine Frau bei der Geburt ihres Kindes. Armut sei die größte Menschenrechtskrise in der heutigen Welt, schreibt Irene Khan. 1956 in Bangladesch geboren, arbeitete die Juristin mehr als 20 Jahre für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und war von 2001 bis Ende 2009 Generalsekretärin von Amnesty International.

In ihrem Buch "Die unerhörte Wahrheit" fordert die Menschenrechtsaktivistin eine neue Sicht der Dinge: Armut sei nicht nur eine Frage des fehlenden Einkommens - Besitzlosigkeit bedeute auch Ausgrenzung, Rechtlosigkeit und einen Mangel an Selbstbestimmung. Menschenrechte und Armutsbekämpfung gehören untrennbar zusammen.

"Wenn Sie die Armen fragen, warum sie arm sind, werden sie es Ihnen sagen: Sie sind arm, weil sie diskriminiert werden, sie sind arm, weil sie in Angst leben, weil sie in einem gewalttätigen Umfeld leben oder in Ländern, die Krieg führen. Das macht sie arm", sagt Irene Khan. "Aber die Armen werden Ihnen auch sagen, dass sie arm sind, weil sie keine Stimme haben. Niemand hört Ihnen zu. Niemand schert sich um ihre Ansichten. Sie sind arm, weil sie an den Rand gedrängt werden."

Wirtschaftswachstum kein Allheilmittel

Lange Zeit glaubte man, das Problem der Armut alleine mit der Förderung des Wirtschaftswachstums armer Länder lösen zu können. Doch Wachstum ist kein Allheilmittel, sagt Irene Khan. Mit den wirtschaftlichen Wachstumsraten steigt nicht automatisch auch der Lebensstandard der armen Bevölkerung.

"Es ist sehr einfach, Armut lediglich als ein Problem des fehlenden Wirtschaftswachstums wahrzunehme", so Khan. " Aber wenn man sich die Muster wirtschaftlichen Wachstums ansieht, merkt man oft, dass vor allem die Bessergestellten profitieren und nur wenig zu den Armen durchsickert. In jedem Land, das im letzten Jahrzehnt Wachstum erlebt hat, hat der Aufschwung auch soziale Ungleichheit geschaffen. Sie können eine größere Kluft zwischen den Wohlhabendsten und den Ärmsten in der Bevölkerung sehen. Wachstum löst nicht die zugrunde liegenden Probleme von Armut."

Menschenrechte unverzichtbar

Können Spenden, neue Technologien oder Investitionen in ein Entwicklungsland das Übel Armut aus der Welt schaffen? Nicht, wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, sagt Irene Khan. Diese Überzeugung teilen mittlerweile auch viele internationale Entwicklungshilfeorganisationen. Aber noch herrsche bei den meisten dieser Organisationen eine gewisse Zurückhaltung, sich auch politisch zu engagieren, bemängelt die frühere Amnesty-Generalsekretärin.

"Viele Entwicklungshilfeorganisationen werden sagen: Moment mal, ihr sprecht über Menschenrechte. Das ist ein politisches Thema - da wollen wir nicht involviert sein - das ist zu brisant. Wir wollen nicht über das Recht auf freie Meinungsäußerung sprechen. Aber wenn es im Land kein Recht auf freie Meinungsäußerung gibt, hat man keine Möglichkeit, die falsche Politik der Regierung zu kritisieren, kann man Korruption nicht aufdecken", sagt Khan. "Diese Erkenntnis setzt sich zwar durch, aber es fehlt am politischen Willen und am Engagement, um Freiheit und Menschenrechte als fundamentale Bestandteile der Armutsbekämpfung zu fördern."

Ungleich verteilter Wohlstand

Ungleichheit und Armut sind aber nicht nur in Billiglohnländern ein Thema: auch in vielen reichen Nationen gibt es soziale Randgruppen, die nur bedingt am Wohlstand teilhaben. Und auch in diesen Ländern wird die Kluft zwischen arm und reich immer größer.

"Wir sehen immer mehr Inseln der Armut in den reichsten Ländern der Erde wie in den USA und Teilen Westeuropas, weil, wie ich glaube, wir nicht anerkennen, dass Armut durch soziale Ungleichheit entsteht", sagt Khan. "Wenn Sie nach Europa schauen: Wer sind die Ärmsten? Die Roma. Die Migranten. Wer sind die Ärmsten in den USA? Es sind hispanische Frauen, die Latinas, und es ist die schwarze Bevölkerung, und zwar weil sie marginalisiert werden. Bevor die Gesellschaft nicht anerkennt, dass Armut und Verweigerung von Menschenrechten Hand in Hand gehen - und Regierungen die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Rechte der Armen respektiert werden -, dann werden wir auch in den reichsten Ländern der Welt massive Armutsinseln haben."

Feminisierung der Armut

Auch in den wohlhabenden Ländern fällt auf, dass der weibliche Teil der Bevölkerung besonders häufig von Armut betroffen ist. Ihnen, den Frauen dieser Welt, widmet Irene Khan in ihrem Buch ein eigenes Kapitel.

"Frauen gehören überproportional häufig zu den Armen. Einige Menschen sprechen von der Feminisierung der Armut - immer mehr Arme sind Frauen, weil sie ganz unten auf der sozialen Leiter stehen. In asiatischen Ländern zum Beispiel sind Frauen die letzten, die zu essen bekommen. In Afrika verbringen Mädchen viele Stunden jeden Tag, um Wasser und Feuerholz zu holen, weshalb sie nicht zur Schule gehen können", erzählt Khan.

"In vielen Gesellschaften haben Frauen nicht die gleichen Rechte. Im Kapitel über Müttersterblichkeit spreche ich über geschlechtsspezifische Gewalt, über den zweitrangigen Status von Frauen. Deshalb investieren Familien nicht in ihre Gesundheitsvorsorge. Und deshalb sterben so viele junge Frauen bei der Geburt ihrer Kinder, obwohl Schwangerschaft keine Krankheit ist", so Khan.

Persönliche Erlebnisberichte

Irene Khan füttert ihr Buch über Armut und Menschenrechte mit unzähligen persönlichen Erlebnisberichten. So erzählt sie über eine Gruppe von Frauen in Bangladesch, ihrem Heimatland, die mithilfe von Mikrokrediten nicht nur ein eigenes Geschäft aufbauen, sondern auch ihre gesellschaftliche Position verbessern konnte.

Aber auch das beste Recht hilft nur, wenn die wirtschaftliche Situation es zulässt. Das zeigt die Menschenrechtsaktivistin anhand des Schicksals von Rosie: Die Südafrikanerin wurde von ihrem Mann zu Tode geprügelt, trotz der fortschrittlichsten Gesetze im Land, die Frauen vor häuslicher Gewalt schützen sollen. Was Rosie fehlte, war das Geld für das Busticket, um Hilfe zu holen.

"Rosie fehlten die zwei Rands für den Bus, um zu Gericht zu kommen. Wegen dieses kleinen Geldbetrages hat sie ihr Leben verloren. Nicht einmal das beste Gesetz konnte sie schützen", erzählt Khan. "Rosies Armut war eine Sache des fehlenden Einkommens. Aber es geht auch um Marginalisierung. Weil Rosie eine arme, schwarze Analphabetin war, wurde sie an den Rand gedrängt, wurde sie von ihrem Mann geschlagen, konnte sie keine Arbeit bekommen. So werden all diese Probleme, die mit Armut zusammenhängen, in Rosies Geschichte wieder lebendig. Ich erinnere mich sehr an Rosie."

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Mit dem Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet, schließt Irene Khan ihr Plädoyer für Chancengleichheit und Selbstbestimmung. "Die unerhörte Wahrheit“ ist ein unbequemes Buch - keine leichte Sommerlektüre, aber eine, die zum Nachdenken zwingt.

Service

Irene Khan, "Die unerhörte Wahrheit. Armut und Menschenrechte", aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Bauer, Fee Engemann und Edith Nerke, S. Fischer Verlag

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