Eine Kurt-Tucholsky-Sommerrevue

Sprechen, schreiben, schweigen

Tucholskys unbeirrbarer Scharfblick, seine poetischen wie seine polemischen Herzensangelegenheiten scheinen zur Besitznahme zu verleiten: Seinen Tucholsky hat man; teils gelesen, teils inhaliert, teils seit Jahren zu Hause stehen, teils seinerzeit bewundert, aber jetzt schon lang nicht mehr so präsent - aber: man hat.

Den Tucholsky hat man. Entweder seinerzeit gelesen oder zehnbändig im Regal stehen, in seltenen Glücksfällen beides: Dann entsteht jener Tucholsky-Schwebezustand ahnungsvollen Vergessenhabens, der überleitet in das vage Gefühl des Eigentlichwiedereinmalhineinschauensollens respektive in die dumpfe literarische Selbstzufriedenheit des Heutewürdederdasauchnichtmehrsosagens.

Und dann hat man seinen Tucholsky meistens auch schon gehabt, fürs restliche Leben.

Am Tucholsky gemessen

Dabei ist von kaum einem andern bedeutenden Schriftsteller (um nicht zu sagen: Dichter) in den letzten hundert Jahren so oft gesagt worden, wie dringend einer wie er heutzutage gebraucht würde. Nein, tot sein ließ man ihn nie, aber leben, merkwürdigerweise, auch nicht so recht - nicht einmal in den ohnedies nur fünfundvierzig Jahren seiner persönlichen Anwesenheit.

Das könnte daran liegen, dass er so gut ist. Dass er der - jetzt hätten wir fast gesagt: der lebende - Erweis dafür ist, dass es in Sachen literarischer Geistigkeit und in Dingen des Weltverstandes nicht so sehr darauf ankommt, was beziehungsweise wie etwas gesagt wird, sondern wer es sagt. Und so ist der Dichter Kurt Tucholsky auch in seinen paar schwächeren Sachen, auch dort, wo er zuvörderst um der aktuellen Polemik willen reimt oder um des höheren Ernstes willen blödelt, vielleicht ein bisschen weniger brillant, allenfalls ein bisschen weniger funkelnden Witzes, kurzum: nicht ganz so gut wie sonst - aber der Mann hat's auch weiß Gott nicht leicht: Immer wird er gleich am Tucholsky gemessen, an dem, den man intus hat, geradezu verschlungen seinerzeit und auf den man infolgedessen nichts kommen lässt, nicht einmal die kleinste Tucholsky-Nachlektüre ... (Aus der sich ergeben könnte, dass bei Tucholsky ein "Nicht-ganz-so-gut" nicht das Geringste mit dem "Wahr" und dem "Richtig" zu tun hat.)

Die Treppe

Als Dr. iur. Kurt Tucholsky am späten Abend des 19. Dezember 1935 von seinem Schreibtisch in Mariefred, in der schwedischen Provinz Södermanland, aufstand, um mit einer Überdosis an Opiaten zu Bett und aus der Welt zu gehen, ließ er, dem das Tuskulum im Norden, vis-à-vis dem Schloss Gripsholm, zum Zwangsexil geworden war, ein ganzes Konvolut an Papieren liegen.

Er, der Agnostiker (der aus eben diesem Grund die Selbstgewissheit der Atheisten belächelte), hatte sich zuletzt intensiv mit Gottesgedanken auseinandergesetzt. Er, der zornige Kriegsgegner, war nahe daran, am konsequenten Pazifismus als einzig geeigneter Waffe wider den völkischen Wahn zu zweifeln.

Und auf einen der Zettel, die auf dem Schreibtisch, hatte er "Eine Treppe" gezeichnet: Unterste Stufe: Sprechen. Dann: Schreiben. Ganz oben: Schweigen. Von dort weg ging er, der einzige Mensch, der je im Vollbesitz des ganzen Kurt Tucholsky war.