Von Margit Mössmer

Gerda in Mexiko Stadt

Viva la vida
Que ayer que ayer
Se fue

(Hernán Bravo Varela)

In einem Krankenhaus in der Avenida San Juan de Aragón wurde Gerda auf ihre Operation vorbereitet. Sie hatte gerade drei Wochen im Haus ihrer Großmutter verbracht, als sie sich bei einem Ausflug nach Teotihuacán beim Abstieg der Pirámide del Sol ungut verknöchelte. Eine Eidechse war ihr derart wild vor die Füße gesprungen, dass sie nur noch mit einem großem Schritt ausweichen konnte, der sie ins Leere führte. "Ungeschickte Kleine", sagte abuelita zu ihrer Enkelin und küsste sie auf den Kopf, den Gerda auf den Krankenwagen wartend auf ihre Schulter gelegt hatte.

Im Krankenzimmer schlichen die Schwestern wortlos um die Betten, maßen Blutdruck, setzten Nadeln und brachten Orangensaft. Die Luft war dick und schwer vor Sorgen, doch das Zimmer war gut, denn es hatte straßenseitig einen Balkon, von dem aus Gerda auf einen gigantischen Wohnblock sehen konnte. Wie in einer Fotografie, geradlinig und geordnet, starrte die Fassade. Aus jeder der sich nach außen durch eine breite Balkontür öffnenden Wohnungen sah man einen Esstisch, ein paar Sessel und einen Fernseher. Und jede der Glasflächen war von gleichgültig fallenden Vorhängen umrahmt. So gleich und doch so verschieden, dachte Gerda. Welche Schicksale sich wohl hinter all diesen Balkontüren verbergen mussten? Wie viel Leid, wie viel Freude, von der sie nie etwas erfahren würde? Gerda musste laut lachen. Über ihre kindlichen Erkenntnisse, die sie, hätte sie sie von jemand anderem gehört und nicht aus purer Freundlichkeit gebilligt, nicht nur als uninspirierend, sondern als beleidigend bezeichnet hätte. Denn es ärgerte sie, wenn ihr ein Gedanke, schon tausend Mal ausgesprochen und abertausend Mal gedacht, als persönlich verkauft wurde.

Die Reflexionen ihrer Großmutter hatte sie nie als platt empfunden. Abuelita war eine große Rhetorikerin und allein die Klangfarbe ihrer Stimme konnte altkluge Weisheiten in Richtigkeiten verwandeln. Sie verstand es zudem, das Gesagte in Szene zu setzen, was Gerdas keineswegs vollständigem Spanisch-Wortschatz entgegen kam. Gerda erinnerte sich an einen milden Sommermorgen in ihrer Jugend, an dem ihr Onkel sturzbesoffen nachhause kam. In einem Wutanfall erschlug er den Hund. Die Großmutter weinte keine Träne. Sie legte die Hand auf Diegos Brust und bedauerte ihn, da er nun keinen Gefährten mehr hätte, der ihn auf dem Weg zu den Toten begleiten würde. "In unserer Verschiedenheit sind wir alle gleich", sagte sie am darauf folgenden Abend, als sie die verdorrten Blüten von den Kakteen zupfte, die ihren Innenhof mit wirren Formen und zu Dutzenden in Farbe tauchten. "Sí abuela", sagte Gerda dann leise, "viva la vida". Und sie beide tranken Rotwein.

Es war eine heiße Nacht und Gerda hatte Mühe etwas von der verbrauchten Luft im Zimmer abzubekommen, denn sie musste sie mit vier weiteren Personen teilen: der zarten Paquita, die hochschwanger auf ihr Kind wartete, und ihrem Ehemann Raúl, der den Oberarzt schmierte, um die Nächte auf einem Klappbett neben seiner Liebe verbringen zu dürfen, dem gallenkranken Señor Cabrera, und der Sterbenden. Die Sterbende war sehr alt und sehr dünn. Sie konnte nicht mehr sprechen und nicht mehr essen. Nur manchmal zuckte ein Auge und erzählte von etwas Vergangenem. Während der wenigen Stunden Schlaf hatte Gerda das Gefühl, ihren Körper an das Bett zu verlieren, so gierig sog das Bettlaken ihren Schweiß auf und ebenso gierig nahmen die Schwestern ihr Blut. Im Traum fiel sie immer wieder die Pyramide hinunter, landete aber jedes Mal sanft.

In der Früh ließen die Schmerzmittel nach und Gerda glaubte, ihren Knöchel beim Zerbröseln erleben zu müssen, als sich ihr Kopfpolster regte. Im Inneren schien sich etwas Luft machen zu wollen und tatsächlich schlüpfte eine Ente aus dem Überzug. Sie bewegte sich aufgeregt im Zimmer, ging fast hochmütig am liebenden Paar vorbei, wurde wütend vom Gallenkranken verscheucht und fand ihre Ruhe schließlich auf dem Bett der Sterbenden. Schnabel klappernd zupfte sie die weißen, zarten Polsterfedern aus ihrem eigenen Federkleid, sodass sie bald eine smaragdgrüne Schönheit war. Sie trat ein wenig auf der Stelle, fast als wollte sie sich die Bettdecke zurechtmachen, rollte sich ein und schlief neben der Alten, die inzwischen begonnen hatte, sich im Minutentakt erschrocken, aber langsam, wenige Zentimeter gegen die Decke zu strecken und sich dann wieder fallen zu lassen. Mit der hereinströmenden Morgensonne fingen auch Paquita, Raúl und Señor Cabrera an, sich zu regen. Gerda humpelte hinaus auf den Balkon, um etwas von der neuen Luft des Tages zu bekommen, die um diese Uhrzeit so angenehm frisch und noch nicht feucht war. Unten auf der Straße bemerkte sie eine feierliche Menschenmenge, die musizierend und fast tanzend am Krankenhaus vorbeizog. Sechs Männer trugen einen massiven Goldrahmen, auf dem ein Bett mit blütenweißer, unberührter Bettwäsche montiert war. An den Eckpfeilern des Gestells waren Laternen und Statuetten der heiligen Jungfrau befestigt, die sich mit jedem Schritt hin und her bewegten. "Cortejo fúnebre", räusperte sich Señor Cabrera, der unbemerkt nach draußen gekommen war um eine Zigarette zu rauchen. Gerda drehte sich zu ihm um und verstand.

Es war die Trauer um einen Verstorbenen, die man dort unten feierte. Eine Gruppe Mariachi spielte "Las Golondrinas - die Schwalben", und Gerda dachte an ihre Großmutter, die kein Lied mehr rührte als dieses.