Von Margit Mössmer

Gerda in Love I

Am 27. April 1975 um 3 Uhr nachmittags hatte Gerda bei ihrem täglichen Weg vom Kindergarten in der Blackfriars Road zum Haus der Scotts in der Upper Thames Street den Künstler und späteren Knopfproduzenten Gilbert Rose kennen gelernt.

Gilbert nutzte seine freien Nachmittage, um am Ufer der Themse auf sich aufmerksam zu machen. Manchmal grub er tiefe Löcher in den Sand, die er mit alten, veralgten Fischernetzen bedeckte, oder er häufte Steine und Unrat zu großen Bergen, um diese dann mit roter und blauer Farbe zu begießen. An jenem Nachmittag, an dem Gerda das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, hatte Gilbert gerade eine Unmenge an rostigen Schiffsteilen ans Ufer geschleppt, auf denen er wie selbstverständlich puren Punk in den Wind trommelte. Die Töne trafen die umstehenden Menschen wie ein magischer Trunk, der sie ganz zeitvergessen werden ließ.

Gerda hatte Gilberts Aktionen schon öfter gesehen. Immer wenn sie von weitem schon eine manchmal kleine, manchmal größere Menschengruppe an der vom Ufer erhöhten Promenade stehen sah, die dem jungen Mann ein meist gespanntes Publikum war, ließ sie die beiden Kinder ins Süßwarengeschäft laufen, um in einem Moment der Ruhe eine Zigarette zu rauchen und im Schutz der umstehenden Menschen Gilbert zu beobachten, was sie auch diesmal tat.

Anne Scott, die ältere der beiden Kinder, ahnte an jenem Nachmittag noch nicht, dass sie Gerdas Leben bald in neue Bahnen lenken würde. Sie kehrte mit ihrem Bruder zum Ufer zurück und entdeckte Gerda, als sie auf dem Geländer abgestützt ruhig an ihrer Zigarette zog. "Don't tell your Mum and Dad, hm?" sagte sie ohne den Blick von Gilbert abzuwenden zu den Kindern, die Eis schleckend ihrer engen Erziehung unterlagen und sie - verängstigt vom Laster eines anderen Menschen - nicht wagten anzuschauen. Doch die beiden liebten ihr Au-pair-Mädchen und so konnte sich Gerda ihrer Verschwiegenheit sicher sein.

Zur selben Zeit war Gilbert bereits dabei, die Einzelteile seines Instrumentariums einzupacken und die Geldstücke, die die Leute vom Gehweg zu ihm hinunter in den Sand geworfen hatten, einzusammeln. Gerda, die im Haus der Scotts zwar mit Essen versorgt wurde, deren Taschengeld aber selten für ein schönes Konzert in Chelsea oder einen bescheidenen Einkaufsbummel in Soho reichte, konnte und wollte nichts geben. Anne Scott aber verspürte den dringlichen Wunsch - sei es aus kindlicher Nächstenliebe, oder aus Freude an der Schwerkraft - etwas zu Gilbert hinunter zu werfen. Sie griff in ihre Manteltasche und holte einen rosafarbenen Knopf heraus, den Gerda ihr schon vor Wochen wieder an ihr Kleid hätte annähen sollen. Sie strich noch einmal mit ihren zarten Fingern über die glatte Oberfläche und warf den Knopf zwei Meter abwärts in den Sand.

Es dauerte nicht lange, bis ihn Gilbert, der seinen Kopf auf den Boden gerichtet hielt, um auch keine Münze zu übersehen, entdeckte. Er blickte nach oben und sah Gerda und die Kinder am Geländer stehen. Die übrigen Menschen waren inzwischen schon weitergegangen, was Gerda gar nicht aufgefallen war. Gilbert machte einen Satz auf die Mauer, drückte sich auf einem herausstehenden Holzstumpf balancierend nach oben und hielt sich am unteren Teil des Geländers fest, so dass er gerade die Füße seiner stehen gebliebenen Zuschauer fassen hätte können. "Is it yours?" schaute er Gerda von unten an. "There's nothing more worthless than a button " sagte er mit ernsthaftem Gesicht, nachdem weder Gerda noch Anne etwas dazu sagen wollten. Gerda hatte Angst, er würde wütend werden, hätte die Geste der Kleinen als Beleidigung empfunden, also nahm sie die Kinder rasch an der Hand, wobei sie ihre Augen immer auf ihn richtete, ihn, den sie nach so langer Zeit zum ersten Mal aus der Nähe sah, dessen Gesicht von vielem gleichzeitig erzählte, und dessen Schultern schmächtig, aber voller Stolz in der Haltung waren. Gilbert war bereits angestrengt vom unsicheren Stand auf dem Pfosten. "But, a button meeting a buttonhole ..." fing er wieder Gleichgewicht, "...means combining textures and receiving warmth, coherence and beauty!"

Gerda wusste nicht ob Gilbert dumm oder ein Philosoph war. Und daher wusste sie den ganzen Weg nachhause über, beim Nachmittagstee, abends beim Hausaufgaben machen und während der Nacht, in der sie aus dem Fenster starrte, auch nicht, ob ihr Herz vor Anspannung oder Begeisterung rasen sollte.

Am nächsten Tag, als sie und die Kinder die Uferpromenade erreichten, winkte ihnen Gilbert, der in der Luft über einer noch nie da gewesenen Menschenmenge zu schweben schien, aus der Ferne. "Come here to me!" rief er ihnen zu, wie ein schaukelnder Zirkusdompteur, der sein Publikum ins Zelt lockte. Als sie näher kamen bemerkten sie, dass er nicht schwebte, sondern auf dem Dach eines gigantischen Palastes aus Knöpfen gestanden war. Eines Palastes mit großartigen Zwiebeltürmen, dicken Säulen und Meter hohen Treppen, die von einer Dachterrasse auf die nächste führten und in dessen Anlage sich Springbrunnen, Pflanzen, Elefanten und Paradiesvögel in ihrer Schönheit übertrafen. Tausende, abertausende, Millionen und Milliarden Knöpfe hatte Gilbert dafür gestapelt. Sie waren aus Plastik, stoffbezogen, mit Löchern oder Ösen, es gab Perlmuttknöpfe, Hornknöpfe, Holzknöpfe und Metallknöpfe. Knöpfe in lila und mit bunten Streifen. Knöpfe in strahlendem gelb, kobaltblau und rubinrot. Poppige Knöpfe, pelzige Knöpfe und welche mit kleinen Motiven darauf, winzig kleine und Teller große. Und sie alle spielten Bausteine in Gilberts riesigem Bau, der die vorbeifahrenden Frachtschiffe wie Spielzeug aussehen ließ. Bald wurde klar, dass Gilberts Einladung, den Palast zu betreten, nur Gerda und den Kindern galt. Über eine wankende Hängebrücke aus sechseckigen, knallroten Knöpfen stiegen sie von der Promenade hinunter zum Palast, während die umstehenden Leute ihren feierlichen Gang verblüfft und durchaus neidisch beäugten. Gilbert begrüßte seine Gäste mit einer innigen Umarmung, nahm Gerdas Hand und zeigte ihnen die schönsten Ecken des Palastes. Anne durfte auf einem der Elefanten reiten und ihr Bruder rutschte vergnügt die Zwiebeltürme hinab, während Gerda und Gilbert im Schatten der Bäume Tee tranken und sie bald wusste, warum ihr Herz raste. Sie traute sich ihm nie zu sagen, dass es nicht ihr Knopf gewesen war. Und wurde ein Jahr später Gilbert Roses Frau.