Von Margit Mössmer

Gerda in Love II

Februar 1976, einige Monate vor der Hochzeit.

"Weißt du Gerda, die Tower Bridge ist meine Obstschale", legte Wolfgang den von der Ölfarbe ganz schwer gewordenen Pinsel ab. "Ich liebe es, sie zu jeder Tageszeit zu malen. Hast du gewusst, dass ein und derselbe Gegenstand in unterschiedlichem Licht unterschiedlicher ist als verschiedene Gegenstände in gleichem Licht?" Er trat einen Schritt zurück, um Abbild und Realität zu vergleichen, schaute einmal auf die Leinwand, dann wieder nach draußen, wo die Brücke im Halbdunkel und von wild wirbelnden Schneeflocken unbeeindruckt, schwer dalag.

"Nein, das wusste ich nicht" sagte Gerda und verzögerte in ihrer Überraschung das Vorhaben, sich eine Zigarette anzuzünden. Wolfgang reichte ihr Feuer.

"Hey Gilbert! Isn't it right, the thing I told you about the light?"

Gilbert war in einer anderen Ecke des Ateliers dabei den Ofen anzuheizen. Die ersten Flammen zeigten sich in warmen Tönen auf seinem Gesicht und man konnte ihm die Freude darüber ansehen. Er genoss die Abende in Wolfgangs Atelier. Nicht nur weil Wolfgang vom Studienkollegen zum Freund geworden war, sondern weil er hier Zeit mit Gerda verbringen konnte. Bis in den späten Herbst hinein fand seine Liebe zu ihr draußen im Freien statt. Sie machten lange Spaziergänge in der Stadt, unternahmen Ausflüge nach Greenwich oder Hampstead, und waren so dem Gedanken entkommen, einander zuhause vorstellen zu müssen, nur um eine Umgebung zu haben, die nicht öffentlich war. Und gerade als sich die letzte Bank im Regent's Park und die dreckigste Steinstufe vor der Universität mit der feuchten Londoner Kälte vollgesogen hatte, kam Wolfgang.

Das Talent dieses Sohnes eines österreichischen Feldmaschinen-Produzenten wurde zuhause ernst genommen und so hatten ihn seine Eltern nach der Reifeprüfung in die St Martin's School of Art geschickt. Wolfgang Leitner senior wähnte seinen Sohn in einer der einflussreichsten Kunstschulen Englands. Der Sohn selbst sah sich in einem brodelnden Gewässer der Punk- und New-Wave-Szene, in dem er manchmal kräftig mitschwamm, manchmal drohte unterzugehen - nicht etwa weil er zu wenig, sondern weil er zu viel von sich verlangte. Wolfgang hatte alles, wovon man als Student in London träumte: Gute Kontakte, eine kleine Wohnung bei Charing Cross und das Atelier.

"Das Atelier" war für Gerda und Gilbert mehr als nur ein Raum. Es war der Ort an dem ihre Beziehung stattfand. Nach ihren täglichen Verpflichtungen - Gerda sorgte für die Kinder der Scotts und lernte für ihr Englischexamen, Gilbert verfolgte mit ungewöhnlicher Ernsthaftigkeit seine Studienziele - trafen sie sich hier um manchmal mit, manchmal ohne Wolfgang über Politik oder Kunst zu reden, Wein zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Gerda wusste, dass sie ohne diesen Raum niemals so viel für Gilbert empfinden hätte können, dass ihre Liebe an diese wenigen Quadratmeter eines alten Industriegebäudes in Southwark gebunden war.

"Absolutely, just think of Monet!" antwortete Gilbert mit freudiger Bestimmtheit und einem Glanz in den Augen, der ihn immer verriet, wenn ein Gedanke seine Seele aufwühlte.

"Richtig, Monet hat doch auch wie ich die Tower Bridge gemalt, nicht wahr?" - "Nein Wolfgang, das war die Waterloo Bridge."

"Oh love, we'd be lost without you" setzte sich Gilbert neben Gerda auf die Couch und küsste sie auf die Stirn, wie er es gerne tat. "She's more educated than we are. We have to accept that, Wolfgang."

"Weiß ich, sie is unsere Gscheite!" lachte er und sie alle lachten und sprachen einen Toast auf Gerda aus.

Die Stunden vergingen mit jedem Wort schneller. Immer weniger konnten die drei ihnen folgen, verstehen wo die vorherige hingegangen war. Sie hatten auch vor Wolfgangs ausgesprochenem Witz keinen Respekt. Er zitierte erhabene Gedichte in lächerlichen Tonlagen, erzählte absurden Unfug, und holte aus zu langen Geschichten, die vielleicht wahr waren, vielleicht auch nicht.

"Wusstet ihr, dass Kobaltblau entsteht, wenn man Kobolde lange genug stampft?"

"Wolfgang, du hast so an Huscha", lachte Gerda.

"Wirklich, was glaubst du was Yves Klein gemacht hat? - Kobold-Pulver!" Er schaute abwechselnd auf sein Bild und nach draußen auf die Brücke, die jetzt, da es endgültig finster war, nur in Umrissen zu sehen war. Er zwickte einmal das rechte, einmal das linke Auge zu, verglich erneut Abbild und Realität.

"Yves, du Hund!" wurde er wütend, "wirfst Licht und Schatten auf die Leinwand, und das alles mit nur einer Farbe!"

"Übrigens" schwenkte seine Stimme urplötzlich wieder ins Heitere "... mag Ungarn vielleicht keine Demokratie sein, aber es ist bestimmt auch keine Wolle!" Gerda hielt sich den Bauch vor Lachen, wischte eine fröhlich nasse Träne von ihrer Wange und scheiterte am Versuch für Gilbert zu übersetzen, der ohnehin mitlachte.

Und die Zeit? Sie verging einfach. Sie erkannte nicht, dass sie sich aus derartigen Momenten heraushalten sollte, dass sie in diesem Glück nichts zu suchen hatte. Eine besonders gemeine Minute zog Wolfgang zu den Schlafenden, während die Stunden für Gerda in der unbeschreiblichen Art vergingen, in der Zeit für Liebende vergeht: viel zu schnell und doch von Sekunde zu Sekunde bewusst. Sie speicherte jeden Blick, jede Berührung, die sie von Gilbert bekam, für die Ewigkeit, ohne dass es ihr Mühe machte.

Nachdem Wolfgang eingeschlafen war, saßen sie auf dem Fenstersims und bestaunten die Schneeflocken, die sich in alle Richtungen streuten und nie zu Boden zu fallen schienen. Sie saßen im Dunkel um das Eigenlicht des Schnees nicht zu stören, als sich Gilbert hinter Gerda setzte, sie mit seinen Armen und Beinen umschlang und sein Kinn auf ihrer Schulter abstützte. Gerda hatte noch nie so viel Körperlichkeit erlebt. Noch Jahrzehnte später würde sie mit nur wenig Aufwand Gilberts Umarmung spüren können.

Trotz dieses gewaltigen Ereignisses ging die Sonne auf wie an jedem Tag. Mit dem neuen Licht, das ins Zimmer fiel, bekamen Gerda und Gilbert Mut, noch immer nicht müde zu werden. Sie fühlten sich der Zeit überlegen und hatten bereits Pläne für den Tag gemacht. In der Ecke auf der Couch sah der schlafende Wolfgang ganz anders aus. Ein winterlicher Sonnenstrahl ließ seinen Körper Schatten werfen. Er regte sich.

"Ihr seid noch hier?" blinzelte er ins Licht. "Wir haben durchgemacht!" strahlte Gerda, die in einem von Schlaflosigkeit geweckten Übermut mehr denn je in Verliebtheit badete, und sich anhörte, als wäre sie für ihr Wachbleiben gerne gelobt worden.

"Geht jetzt, ich erwarte gleich Besuch. Ihr könnt euch nicht immer hier einquartieren, wie es euch gerade passt", faselte Wolfgang hörbar vom Wein geplagt in die Decke, die er bis übers Gesicht gezogen hatte.

Gerda wurde heiß, sie wusste nicht, was sie sagen sollte und nahm Gilberts Hand.

"What did he say?" fühlte der sich ausgeschlossen.

"Nothing my heart. ... Der Ofen ist ausgegangen, nur dass du weißt..."

"None of your business, Gerda, none of your business. Haut einfach ab" drehte er den Kopf zur Wand und schlief weiter.

Und sie gingen aus dem Atelier, um in einem Café an der Promenade zu frühstücken.