Oswald Eggers Opus maximum

Die ganze Zeit

Oswald Eggers "Die ganze Zeit" ist - salopp gesprochen - ein Ziegel. 741 Seiten in zinnoberrotes Leinen gebunden - ohne Genrebezeichnung: Das Buch ist kein Roman, kein Gedicht oder Epos, kein Traktat. Selbst im Vergleich zu früheren Arbeiten wie die umfangreiche "Herde der Rede" wirkt "Die ganze Zeit" wie Eggers Opus maximum.

Dessen innere Struktur erschließt sich nicht sofort: 36 Kapitel von jeweils zehn bis knapp über zwanzig Seiten Länge, die wiederum aus verschiedenen Textsorten bestehen: jedes Kapitel hat einen quasi programmatischen Vorspann; ungefähr zehnzeilige Prosa-Stücke, die bisweilen höchst "lyrischen", fast expressiven Charakter besitzen; daneben stehen Vierzeiler, entweder in einer Marginalspalte, oder in die Texte eingestreut.

Motto von Augustinus entliehen

Das schon im Seitenaufbau kompliziert simultane Unternehmen ist überdies von Zeichnungen durchsetzt: Knoten, Schlingen, Ösen, Faltungen, Ornamente, Erklärungen mathematischer Topologien, Strukturmodelle und Pläne (darunter jener der Schlangeninsel, Ort des Achilles, um den es später noch gehen wird). Wie es sich für ein Werk mit derart ambitiösem Titel gehört, ist das Motto vom größten aller Zeittheoretiker genommen, dem Heiligen Augustinus; ein nachgestelltes Epitaph stammt aus dem spätantiken "Trost der Philosophie" des Boethius.

Was also die ganze Zeit des unbegrenzbaren Lebens in gleicher Weise umgreift und besitzt, wem nichts Zukünftiges fern ist und nichts Vergangenes verflossen, das kann mit Recht ewig geheißen werden...

Beginn mit Geburt

Einen Plot besitzt das Lebenszeit in Weltzeit - also im Ewigen - auflösende Unternehmen nicht, umso deutlicher ist der herausfordernde Duktus des Textes, der mit jedem einzelnen seiner mäandernden Sätze eine Totalität abzubilden, zu evozieren versucht. Es beginnt mit einer Art Geburt:

Es ist wahr: ich bin stark, ich habe Lungen und Arm, und ich atme. Ich bin ein wulstig ungeschlacht possierliches und hässliches Bild (als Schreck für jeden), meine Augen tun größer als der Bauch, ein aufgezäumter, blond propfendick hagerer Kadaver (bald einige Tage alt), mein Kopf ist dicker als der übrige Körper üppig, mit groben Glotzbacken, vielgliedrig zusammengezuzelt, unten zu Stumpen gestutzt, so feist riss ich ein Wühltier gleich.

Parallel dazu heben in der Marginalspalte zwei Vierzeiler an:

Mein Leben / war eine Feuer- / Lilie, die / auf Heu blüht.

Ganz leicht und / ohne Gewicht, / und ganz langsam / verglühte ich.

Ein Netz von Bedeutungen

Die Leichtigkeit dieser Kurz-Texte verrät einen mitunter schelmischen, feixenden Kommentator der eigene Sache: sie als Gedichte zu bezeichnen fällt nicht nur schwer, weil heute ohnedies niemand mehr weiß, was ein Gedicht ist. Sie verweigern auch jegliche innere Form, die ein Gedicht voraussetzt. Paul Celan nannte das: "Unendlichsprechung vor lauter Vergeblichkeit und Umsonst". Unendlichkeit heißt bei Oswald Egger Simultanität, Glossolalie; ein Netz von Bedeutungen - anstatt Bedeutsamkeit.

Schon die Menge dieser allem Symbolischen abgeneigten Vierzeiler entwertet alles Epiphanische, alles Erleuchtende eines Gedichtes. Es geht hier viel mehr um Serielles - wie einst in der so genannten Neuen Musik, oder in der Bildenden Kunst.

Zusammengesetzte Texte

Auch der "Haupttext" verlässt rasch jeglichen konventionell Ausdruck, alle herkömmliche Beschreibung:

Horn-Stumpen verschmitzt, die aneinander klamm'perten, wie über überrieben knirschten! (...) Von der Beute aß ich Adern (und das gute Fleisch der Pfoten: ich sog es aus wie Blut-Puppen und war glücklich); kniete, das Mark in den Knochen verborkt, mit Wulstrunzeln zum Halsgefält verwölbt: fast Fühlstilzchen, fast Wimpernflossen blakten in gefitzten Glandern, die glanderten: Das gefiel mir über alle Maßen.

Das eigentümlich Wummern dieser aus Neologismen, Dialektalem, sprachlichen Raritäten, Fachsprachen und Fachausdrücken zusammengesetzten Texte evoziert Amorphes, Monströses, Vorzeitliches, Vorsprachlichkeit, Sprache, die erst beginnt. Deren Gegenstand, eine vielleicht erinnerte, vielleicht aber auch nie gesehene Landschaft, baut sich über Seiten auf, in der dann ein Gebirge zu identifizieren ist, Bestandteile eines Feldes oder eines Abhanges.

In der Flut apokalyptischer Bilder findet sich nur manchmal ein Anhaltspunkt: etwa der "Affe, der auf Stäbchen Teller kreiseln lässt", oder ein Zitat - zum Beispiel von Wittgenstein, das selbst allerdings verwirrend genug ist: "Die ganze Zeit? Ich denke nicht an die ganze Zeit als Sechsecke."

Vom Berg in die Zille

Oswald Egger - das ist eine dem deutschen verwandte Sprache - ein Umstand, der aber weder deren Eindringlichkeit, noch Präzision beeinträchtigt:

Diese Wiesen, breiten Hangleiten sind mit dürrstem Heu bedeckt. Dunstfliegen zünseln und kräuseln am Halm, ein karger Streifen dämmerfahler, kahl'ter Erdwärme in Schwaden, je nachdem die Nebelblende ungewölk't, geöffnet ist.

Glaubt man sich zwischen den "Kolken" und "Tuffharfen" endlich in den Bergen, sitz man schon in einem Boot:

Die Zille knirscht, in allen Spanten (...) Auf einmal löste sich ein Spuk- und Mundwels vom Profil.

Und sitzt der Leser in einem Boot, so watet das Ich schon wieder durch "augweit ausgedörrte Strömfelder":

Die Wärme droppt wie Watte über mich, und Sinter in gehitzter Spiegelung: ein vorglosendes Flundern, sein schnurrborstiger Hakenbart und die Kinn-Kammwirbel gescheitelter Dicht'ickt. Es pitscheln Schloßen über den Teich, teilen die Eistropfen tümpeln wie Molluksen (ohne Schale und Valven), Lachen und verschwemmte Bassins.

Schließlich heißt es dann ganz einfach:

Da brach die Erde. In einem unfassbaren Riss - klaffte alles.

Das Ich als Achilles

An einigen Stellen seines Buches bringt Egger Selbstinterpretationen, zumindest kann man einige der Zwischentexte als solche lesen: Einmal vergleicht er sein Verfahren mit Inkrustationen, mit Einlegearbeiten aus Stein; einmal ist von "gleichsam tiefenlosen Scheibenbildern" die Rede.

Nicht von Mal zu Mal wiederholt sich ein und dasselbe ohne Variation, es variiert das vielmehr Gleiche, gleich und gleich, aufs Mal, in eins.

Und schließlich gibt es mehrfach eine Art psychologischer Beschreibung: Das unendlich oft vorgeführte "Ich", das längst nicht (oder nicht mehr) an das Autoren-Ich denken lässt, sei ein "von jeher ernster, etwas schwernehmender, doch wach und orientierter, in tätigem und erfülltem Leben stehender Achill"; und dieser etwas überraschend auftauchende mythische Held beklagt Zustände der "Schwäche und der Trauer", "Zustände völliger Regungslosigkeit", "Hohlsein in der Brust". Es ist "wie wenn ich in Blei gebadet dagelegen sein würde".

Eggers Achilleus mutet momentweise symbolistisch, ja fast jugendstilmäßig an; vor allem wird der Sohn der Meeresnymphe Thetis in eigenwilliger Etymologie mit den indoeuropäischen Namen für Wasser und Fluss in Verbindung gesetzt, mit Bach, mit Aache, dem Gebirgsfluss, mit "gach" - rasch, schnell. Hier trifft man auch auf den "Gachen", ein Ausdruck, den man in Wien kennt.

Bekanntlich hebt ja Homers "Illias" mit dem Zorn des Achilles an. Ach! Und Achilles ist schließlich auch der Protagonist jenes Zenonischen Paradoxons, in dem der schnellste Läufer bei einem Wettrennen mit einer Schildkröte diese niemals wird einholen können. Es geht dabei um Einheit, Vielheit, um Serien, um Schein und Unendlichkeit - um mathematisch gefasste Zeit. Das zentrale Moment aller Dichtung aber ist - Zeit.

Bei der Mündung der Donau

Oswald Egger zitiert viel heran, bringt seine Zitate zum Singen, schließlich entwirft er - unter anderem mit Hölderlin - eine Poetik europäischer - einst hieß das abendländischer - Landschaft. Zumindest der südliche Teil mitteleuropäischer Aachen, Bäche und Flüsse mündet in der Donau, also im Schwarzen Meer.

Dort, unweit der Mündung der Donau, befindet sich die Schlangeninsel, auf der laut griechischer Mythologie Achilles seine letzte Ruhestätte fand: ein Tempel und ein Standbild sollen einst an ihn, der auf der "Insel der Glücklichen" seine ewige Ruhe fand, erinnert haben.

Figur und Hintergrund fallen in eins. Bei Egger ist Achill ein Fisch, "der sich ins seichte Brack verirrt hat." Oder ist auch dieses Ziel nur ein Trugbild, zu dem sich der Protagonist von "Die ganze Zeit" aufgemacht hat - nach so vielen philosophischen und sprachlichen Verdichtungen und Verrenkungen? Am Ende stehen immer klarere und wuchtigere Sätzen, am Ende ist der Anfang, eisige Bergeshöhen, alles bewegt sich noch einmal im Kreis.

Bereits jetzt erreichte ich erste Gletscherzungen; noch steiler ging es über Ries- und Firnfelder hinauf. Davor in einem brennenden Schneemeer, liegt ein Insel, auf dieser Insel liegt ein Faß, in diesem Faß ist ein Schaf, in dem Schaf stakst ein Huhn, in dem Huhn liegt ein Ei, und im Ei sei mein Leben (versteckt).

Auf den Kopf gestellt

Gegen "Die ganze Zeit" wären gewisse Einwände vorzubringen, etwa: Das Buch ist schwierig und man muss sich für die Lektüre schon ziemlich viel Zeit nehmen.

Wenn es in Georg Büchners "Lenz" einmal heißt, "nur manchmal war es ihm unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte", so stelle dieser Text das Verhältnis von Sprache und Welt tatsächlich auf den Kopf. Eggers Variante lautet so:

Zum Beispiel habe ich mir ein Haus gebaut, aus Sprache, aber ich kann mir das nur so vorstellen. Wie wenns auf dem Wasser schwimmt.

Der Leser von "Die ganzen Zeit" darf sich nicht gemütlich an tragischen Gegenständen vor seinem Fenster ergötzen, der Schiffbruch findet ohne Zuschauer statt: Und längst ist man lesend auf offene See hinausgetrieben, alle Begriffe und Vorstellungen davon, was Literatur ist, müssen neu geordnet werden. Land ist nicht mehr in Sicht, aber wie und wo sonst könnte man noch eine Entdeckung machen?

Service

Oswald Egger, "Die ganze Zeit", Suhrkamp

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