Die Kunst des gefährlichen Lebens

Messerwerfen & Absinth

Selbstgebastelte Gegenstände, die zischen oder krachen, machen glücklich. William Gurstelle verspricht in seinem neuen Buch "aufregende, gewagte und interessante Dinge", die man tun kann "ohne dafür die Familie verlassen oder in ein fremdes Land ziehen" zu müssen.

Ein Hauch von wilder Welt

Die einen spekulieren mit Milliardenbeträgen oder stürzen sich Hochhäuser und Bergklippen hinunter, die anderen legen sich Wachhunde zu und bestellen die neuesten Alarmanlagen. Der Drang zum Nervenkitzel und der Sicherheitswahn sind Phänomene, die gerade in Krisenzeiten besonders stark aufzutreten scheinen.

Für Zeitgenossen, die eher zum gefahrlosen und abgesicherten Leben tendieren, jedoch zumindest ab und zu einen Hauch von wilder Welt verspüren wollen, gibt es jetzt die passende Anleitung dazu.

Denn, glaubt es mir! - das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein zu ernten, heißt: gefährlich leben!

Friedrich Nietzsches leidenschaftlicher Appell in seinem "freigeistigen" Werk "Die fröhliche Wissenschaft" scheint so etwas wie das Lebensmotto von William Gurstelle geworden zu sein. Das war nicht immer so. Zwei Jahrzehnte seines Lebens vergeudete der Ingenieur aus Minneapolis laut eigenen Angaben als Angestellter einer Telefongesellschaft mit immer gleichen und täglich langweiliger werdenden Arbeitsabläufen. Sein Leben war eine große Leere und bar jeder Gefahr.

1999 erinnerte er sich wehmütig an die Abenteuer seiner Kindheit und daran, was ihn damals wirklich glücklich gemacht hat: Es waren selbstgebastelte Gegenstände, die entweder zischten oder krachten. Im Idealfall taten sie beides. Er begann zu experimentieren und darüber zu schreiben. Die Verkaufszahlen seines ersten Buches "Backyard Ballistics" stiegen binnen kürzester Zeit in die Höhe wie die darin beschriebenen Raketen. Der Leser erfährt, wie man Maschinen herstellt, um etwa Erdäpfel mit 130 km/h durch die Luft zu schießen oder Drachen aus brennenden Zeitungen bastelt.

Leben voller Experimente

Sein Bestseller machte Gurstelle ein Leben möglich, in dem sich fortan alles nur noch um seine populären Experimente drehte. Es folgten zahlreiche Artikel in einschlägigen Magazinen, eine eigene Fernsehserie und weitere Bücher voll mit Anleitungen für allerlei Do-it-yourself-Krachmacher und andere riskante Spielzeuge.

Ich habe dabei vermutlich mehr Dinge von der Schleuder eines Katapults oder aus dem Lauf eines Luftgewehrs abgeschossen als jeder andere Mensch auf der Welt. Ich habe Katapulte konstruiert, mit Raketenantrieben herumexperimentiert, Sprengstoff zermahlen, Taserkanonen zusammengebaut und Kampfroboter gebastelt. Natürlich ist es gefährlich, wenn Sie nicht vorsichtig sind. Aber das Gleiche gilt fürs Autofahren oder Rasenmähen.

Was der hemdsärmelige Selfmade-MacGyver vermitteln will ist die Kunst, gefährlich zu leben. Seine "praktische Einführung" richtet sich an Menschen, die ihr Dasein durch kleine, feine Aufregungen etwas prickelnder gestalten möchten, ohne dabei unbedingt das Leben zu riskieren.

Kurzer Lernprozess, echtes Risiko

Gegenüber herkömmlichen modernen Action-Abenteuern wie Base-Jumping oder Apnoetauchen haben kunstvoll gefährliche Aktivitäten drei große Vorteile: Sie erfordern erstens nur einen kurzen Lernprozess, sind zweitens nicht übermäßig kostspielig und weisen drittens ein echtes, aber "vernünftiges" Risiko auf.

Es reicht vom Fischen mit der Hand, über die Herstellung eines Pulso-Triebwerks für individuelle Raketen, dem Verspeisen gefährlicher Lebensmittel wie dem berühmt-berüchtigten Kugelfisch bis zu den titelgebenden Freizeitaktivitäten des Messerwerfens und Absinth-Trinkens.

Während über letzteres nur allgemeine historische und kulturelle Informationen widergegeben werden, die man ebenso auf einer Wikipedia-Seite nachlesen könnte, trifft der Autor mit dem Messerwerfen tatsächlich ins Schwarze. Schon nach den einleitenden Reminiszenzen an Lederstrumpf oder Buffalo Bill fragt man sich, warum sich im Ranking der beliebtesten Wurfspiele das brave Darts gegen das wesentlich verruchtere und attraktivere Schleudern von Bowiemessern so deutlich durchgesetzt hat. Verletzen kann man sich schließlich hier wie da.

"Fight or Flight"

Apropos Verletzen: Zur Kunst des gefährlichen Lebens zählt Gurstelle auch eine Reihe von Selbstverteidigungs- und Kampfmethoden, die er seinen Lesern kulturhistorisch und praktisch näher bringt. Neben der kuriosen und vielleicht nicht zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Kampfkunst mit dem Bartitsu-Stab sind das etwa auch die Kunst des Peitschenknallens oder – wesentlich moderner: Parkour.

Ziel von Parkour ist es, sich ausschließlich aus eigener Kraft und eigenem Können so schnell und effizient wie möglich durch den dreidimensionalen Raum zu bewegen, ohne dabei auf Seile oder ähnliche Hilfsmittel zurückzugreifen. Wegen der eleganten, geschmeidigen Bewegung wird Parkour oft als "Skateboardfahren ohne Skateboard" beschrieben.

Gemäß dem Motto "Fight or Flight" empfiehlt Gurstelle dieses aus Frankreich stammende Laufen und Springen durch schwieriges, urbanes Terrain als überlegene Fluchtmethode. Intensives Training vorausgesetzt, kann diese durchaus auch helfen, wenn man innerhalb weniger Sekunden den Platz räumen sollte, an dem man gerade eine selbstgebastelte Rakete gezündet hat.

Abgefedertes Risiko

Ob man sich nach der Lektüre aus einem alten Plattenspieler einen Feuertornado baut, nach Sardinien aufbricht, um dort von der verbotenen Käsesorte "Casu marzu" zu kosten oder sich zu einem Autorennen auf offener Straße trifft - für all diese Aktivitäten liefert der Autor pflichtbewusst alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen, die unbedingt eingehalten werden sollten. Er will ja schließlich niemandem bewusst schaden oder gar jemanden verletzen. Sein Ziel ist es lediglich, Menschen zu zeigen, wie man ein wenig Feuer in den faden Alltag bringt.

William Gurstelle bedauert, dass sich die Risikoscheuen offenbar momentan klar im Aufschwung befinden und man deshalb im Rahmen geltender Gesetze kaum "interessante Dinge" tun oder herstellen kann. Vor allem die Furcht vor Terrorismus - und in den USA ganz besonders auch die Angst vor Schadenersatzklagen - verhindern oft sogar penibelst kalkulierte Abenteuer.

Beflügelnde Explosionen

No risk, no fun - and no development möchte man hinzufügen. Privat betriebene wissenschaftliche Neugier mit einer gesunden Portion Risiko haben schließlich auch ganz große Persönlichkeiten zu dem gemacht, was sie wurden. Thomas Edison etwa hat als Teenager in einem Pendlerzug Zeitungen verkauft. In seiner freien Zeit richtete er sich in einem Gepäckswaggon ein Chemielabor ein. Ein misslungenes Experiment zerstörte zwar den Waggon und Edisons Karriere bei der Eisenbahn, beflügelte aber seinen Wissensdurst und verhalf uns allen zu epochalen Erfindungen.

Winston Churchill, Boris Jelzin, Nikola Tesla und viele andere werden genannt, wenn es um Prominente geht, die in ihrer Jugend schwere Explosionen überlebt haben und trotzdem oder dadurch erst recht zu charakterstarken Persönlichkeiten heranwuchsen. Gurstelle geht es gar nicht so sehr ums Risiko, um sich selbst oder andere zu beeindrucken, sondern um Neugier. Das Verlangen, Neues zu erfahren, beinhaltet nun einmal immer einen gewissen Teil Risiko.

Auch wenn manche seiner vorexerzierten "Künste", wie etwa theatralisches Rauchen oder Känguru-Boxen lächerlich und dumm sind, seine Anleitung zur Neugier ist absolut ansteckend.

Neugier ist ein mächtiges, aus tiefstem Inneren kommendes Bedürfnis, dessen Befriedigung ihren Preis hat. Je neugieriger eine Person ist, desto höher wird der Preis ausfallen, den sie dafür zu zahlen bereit ist. Ein Leben, ohne je bis an die Grenzen zu gehen, ist langweilig und vielleicht sogar nichts wert.

Service

William Gurstelle, "Messerwerfen & Absinth. Praktische Einführung in die Kunst des gefährlichen Lebens", aus dem amerikanischen Englisch von Michael Hein, Rogner & Bernhard Verlag

Rogner & Bernhard