Ein Streifzug durch Enzensbergers Werke

"Das Denken überantwortend den Wölfen"

Der "Salon-Anarchist" Hans Magnus Enzensberger brachte 1957 seinen Vorwurf an die Bürger, nicht aus der selbstgewählten Unmündigkeit ausbrechen zu wollen, in Gedichtform: "was guckt ihr blöd aus der wäsche auf den verlogenen bildschirm?"

"Die Prophezeiung ist meine schwächste Seite."

Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Michael Kerbler

Haben Sie schon vergessen, was Hans Magnus Enzensberger in seinen "Aussichten auf den Bürgerkrieg" geschrieben hat? Etwa:

In New York ebenso wie in Zaire, in den Metropolen ebenso wie in den armen Ländern werden immer Menschen für immer aus dem ökonomischen Kreislauf ausgestoßen, weil sich ihre Ausbeutung nicht mehr lohnt.

Erinnern Sie sich noch an seinen 1962 veröffentlichten Essay über die "Bewußtseins-Industrie"? Etwa an jene Schlüsselpassage:

Materielle Ausbeutung muss hinter der immateriellen Deckung suchen und die Zustimmung der Beherrschten mit neuen Mitteln erwirken. (...) Gepfändet wird nicht mehr bloß Arbeitskraft, sondern die Fähigkeit, zu urteilen und sich zu entscheiden. Abgeschafft wird nicht die Ausbeutung, sondern deren Bewußtsein.

Und in einem seiner großen Interviews merkte Enzensberger zur "Vierfünftel-Gesellschaft" an:

Es ist ja nicht so, dass uns die materiellen Mittel fehlen würden, um zu verhindern, dass große Teile der Bevölkerung immer stärker verarmen. Doch das bedeutet, dass wir das gesamte Konstrukt des Sozialstaates - das letzten Ende auch ein Kind des kalten Krieges und seiner Idylle ist - umbauen müssen. Denn dieses Konstrukt geht von der Annahme aus, dass alle in die Arbeitswelt integriert werden können. Doch das ist eine Illusion.

Eine Analyse, die uns wieder zurückführt zum "molekularen Bürgerkrieg". Denn die Gedemütigten, diejenigen, die aus dem Produktionsprozess Ausgestoßenen, denen die Anerkennung permanent vorenthalten wird, die Verfolgten also "träumen ständig davon, Verfolger zu werden (...)". Und erklären denen, die auf der anderen Seite stehen, den Krieg:

Die kollektive Selbstverstümmelung ist nicht ein Nebeneffekt, der in Kauf genommen wird, sondern das eigentlich Ziel.

Unzweifelhaft ist, dass wir alle zu Zuschauern geworden sind. Und nichts dagegen unternehmen. Dies war in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts nicht anders, als Hans Magnus Enzensberger seinen Vorwurf an die (deutschen) Bürger, nicht aus der selbstgewählten Unmündigkeit ausbrechen zu wollen, unmissverständlich in Gedichtform brachte: "Die Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer"

soll der geier vergißmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom schakal,
daß er sich häute; vom wolf? Soll
er sich selber ziehen die zähne?
was gefällt euch nicht
an politruks und an päpsten,
was guckt ihr blöd aus der wäsche
auf den verlogenen bildschirm?


Die Welt der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem aufkeimenden Wohlstand der Fünfziger Jahre war Enzensberger zu lammfromm:

(...) scheuend die Mühsal der Wahrheit,
dem Lernen abgeneigt, das Denken
überantwortend den Wölfen,
der Nasenring euer teuerster Schmuck,
keine Täuschung zu dumm, kein Trost
zu billig (...)

(...) winselnd noch lügt ihr. Zerrissen
wollt ihr werden. Ihr ändert die Welt nicht.


Und die Reaktion? Die einen sahen das Gedicht an sich verraten durch Politisierung. Andere sahen in Enzensberger einen Heimatverräter. Es gab aber auch solche, die jubelten: endlich ein junger Deutscher, ein zorniger, junger Mann aus Deutschland.

Und die Neue Linke? Die Neue Linke in den 60ziger-Jahren sprach von der Manipulation der Bevölkerung durch die Medien. Was Hans Magnus Enzensberger in seinem "Baukasten zu einer Theorie der Medien" so nicht gelten ließ:

Die Manipulations-These der Linken ist in ihrem Kern defensiv, in ihren Auswirkungen kann sie zum Defaitismus führen. Der Wendung ins Defensive liegt subjektiv ein Erlebnis der Ohnmacht zugrunde. Objektiv entspricht ihr die vollkommen richtige Einsicht, dass die entscheidenden Produktionsmittel in der Hand des Gegners sind. Diesem Sachverhalt mit moralischer Empörung zu begegnen ist allerdings naiv.

Dass Literatur die Welt verbessern könne, dem misstraut Enzensberger:

Wenn ihr glaubt, mit euren Werken die Menschheit retten zu können, seid ihr auf dem Holzweg. Wenn ihr etwas für Sarajewo tun wollt, müsst ihr Lastwagen losschicken und keine Gedichte.

Enzensberger setzt stärker denn je auf die Kraft der Literatur, dazu zu verführen, selbst zu denken. Und er schreibt all jenen, die es genauer wissen wollen, einen Satz des deutschen Philosophen Odo Marquard als Widmung ins Gedächtnis: "Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen."

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Literatur im Nebel
Suhrkamp - Hans Magnus Enzensberger