Behindertenverbände kritisieren Delogierung

"Daheim ist besser als im Heim"

Nach wie vor gibt es keine Ersatzwohnung für jene sechsköpfige Familie, die wegen eines behinderten Sohnes vor der Delogierung steht. Kritik kommt von Experten aus dem Behindertenbereich, speziell von der Lebenshilfe. Möglicherweise zeichnet sich aber jetzt eine Lösung ab.

Morgenjournal, 5.11.2010

Zwangsunterbringung menschenrechtswidrig

Die Familie des 16-Jährigen mache offensichtlich das Richtige, indem sie ihn bei sich behalte und sich um ihn kümmere, sagt Lebenshilfe-Geschäftsführer Albert Brandstätter. So gesehen könne man Vater und Mutter dankbar sein. Eine Unterbringung im Heim würde den Burschen aus seiner gewohnten Umgebung reißen und das sei gerade bei Autisten besonders problematisch, so Brandstätter.

In der von Österreich ratifizierten Behindertenrechtskonvention sei eindeutig festgelegt, dass kein Mensch mit Beeinträchtigungen gezwungen werden darf, in einer Wohnsituation zu leben, die er oder sie nicht will, erklärt Brandstätter: "Das heißt, wenn jetzt dieser junge Mann gegen seinen Willen in ein Heim gebracht wird, ist das eindeutig ein Menschenrechtsbruch."

Behindertengerechte Wohnungen

Daher wünscht sich Brandstätter geeignete Wohnungen für solche Familien, die mit Kindern mit intellektuellen Beeinträchtigungen leben. So könnte sich der Lebenshilfe-Geschäftsführer auch gut vorstellen, dass bei der Planung des Stadtentwicklungsgebiets Wien-Aspern Menschen mit Behinderung eingebunden werden und dort neue Wohnformen entstehen.

Rechte statt Mitleid

Die Lebenshilfe betreut 10.000 Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und ist damit der größte Anbieter in Österreich in diesem Bereich. Ziel, auch der Lebenshilfe sei aber nicht mehr Fürsorge und Unterbringung in Großheimen, sagt Brandstätter, sondern Inklusion - also Einbindung dieser Menschen in die Gesellschaft. "Diese Menschen wollen nicht bemitleidet werden, sondern sie wollen Rechte", sagt Albert Brandstätter.

Auch im Fall des 16-Jährigen, der eine autistische Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörung hat, müsse das bedeuten, dass auf seine Bedürfnisse und Wünsche eingegangen wird und er persönliche Assistenz bekommt. Gleichzeitig sei aber auch eine Betreuung der Nachbarschaft notwendig. Brandstätter hält all diese Maßnahmen für billiger, als ein Heim. Und auf jeden Fall, so der Lebenshilfe-Geschäftsführer, sei das auch menschenfreundlicher.

Paradoxe Lösung zeichnet sich ab

Eine auch laut Magistratsmitarbeitern paradoxe Lösung zeichnet sich jetzt für die Familie mit ihrem behinderten Sohn ab. Weil die Familie in zehn Tagen aus einer Gemeindewohnung delogiert wird und es keine Ersatzwohnung gibt, versucht der Fonds Soziales Wien eine vorübergehende Bleibe in einer Wohnungslosen-Einrichtung zur Verfügung zu stellen. Aber: Danach könnte die Familie erst recht und doch wieder eine Gemeindebau-Wohnung erhalten.

Von Wohnungslosen-Haus wieder in Gemeindebau

Laut einer Sprecherin des Fonds Soziales Wien geht es darum, für die sechsköpfige Familie Betreuung und möglichst einen gemeinsamen Platz in einer Wohnungslosen-Einrichtung zu finden. Mittelfristig und grundsätzlich sei es aber Ziel des Fonds, dass Wohnungslose wieder auf eigenständiges Wohnen - meistens in einer Gemeindewohnung vorbereitet werden. In diesem Fall sei das zugegebenermaßen paradox, so die Sprecherin. Schließlich hat Wohnbaustadtrat Michael Ludwig gestern praktisch ausgeschlossen, dass die Familie wieder eine Gemeindewohnung bekommt - nach der Delogierung per Gerichtsbeschluss wegen Lärmerregung und aggressiven Verhaltens des 16-Jährigen autistischen Sohnes.

Mittagsjournal, 05.11.2010

Paradoxe Lösung, Bernt Koschuh

Kind auf neue Umgebung vorbereiten

Scharfe Kritik kommt neuerlich von der Generalsekretärin der Autistenhilfe Ruth Renee Kurz. Statt auf Umwegen solle die Familie gleich eine andere gut gedämmte Gemeindewohnung erhalten. Denn jede Übersiedlung sei für einen Autisten eine schwere Belastung und würden ihn zusätzlich beunruhigen. Eine mögliche Zusatzbelastung also für die Familie und künftige Nachbarn? Die, so Kurz, müssten auf den autistischen Burschen vorbereitet werden, denn wenn sie ihm - anders als die derzeitigen Nachbarn freundlich begegnen, werde es keine Probleme geben.

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