Das Tagebuch von Benjamin Kewall

Erlebte Revolution 1848/49

Im März 2003 macht ein Angestellter des Altstoffsammelzentrums in Bad Zell im oberösterreichischen Mühlviertel einen sensationellen Fund: Inmitten des Mülls, den er sortieren soll, findet er das Tagebuch eines Wiener Journalisten aus den Revolutionsjahren 1848/49.

Der Text ist in hebräischer Schreibschrift, aber in deutscher Sprache verfasst. Der aufmerksame Finder stellt das Manuskript sicher. Auf Umwegen landete es bei Gottfried Glaßner, dem Bibliothekar des Stiftes Melk. Glaßner - des Hebräischen mächtig - erstellt ein erstes Transkript und übergibt es dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten. Dort wiederum nimmt sich der Historiker Wolfgang Gasser des Texts an.

Bald stellt Gasser fest, wer der bisher namenlose Verfasser des Revolutionstagebuchs ist: der jüdische Journalist Benjamin Kewall. Und dessen Revolutionstagebuch hat Wolfgang Gasser jetzt - sieben Jahre nach seiner spektakulären Wiederauffindung - in einer opulenten Edition im Böhlau-Verlag herausgebracht.

Internes Chaos und externe Bedrohung

Sie sind alles andere als gemütlich, die letzten Oktobertage des Jahres 1848: Kaiser Ferdinand ist nach Olmütz geflohen, die revolutionären Kräfte in Wien haben sich in mehrere Fraktionen aufgesplittert, die Nationalgarde ist nicht in der Lage, Ruhe und Ordnung in der Stadt zu sichern. Nacht für Nacht werden Meuchelmorde verübt, niemand scheint seines Lebens noch sicher, die Cholera bricht aus - und zu allem Überfluss belagert auch noch Feldmarschall Windischgrätz mit seinen konterrevolutionären Truppen das revolutionäre Wien.

In dieser Situation beginnt der jüdische Journalist Benjamin Kewall - zu dieser Zeit Hauslehrer beim k.k.-Hof-Pferdelieferanten Markus Mayer-Strass in der Leopoldstadt - Tagebuch zu führen. Der Historiker Wolfgang Gasser, Herausgeber des Kewallschen Diariums erzählt, dass die politische Position, die Kewall während der Revolution eingenommen habe, hat immer wieder Veränderungen erfahren habe:

"Er hatte auf jeden Fall eine Österreich-orientierte Position. Er war ein liberaler Bildungsbürger, und im Tagebuch ist festzustellen, dass er von der Revolution enttäuscht war. Es gab am Anfang gerade von jüdischer Seite das Bedürfnis, eine Emanzipation zu erfahren. Und da entstand auch eine gewisse Resignation, ein Pessimismus gegenüber den revolutionären Kräften."

Bedrohliche Radikalisierung

Wie vielen anderen Revolutions-Sympathisanten gehen auch Kewall die Gewaltexzesse der radikaleren Kräfte zu weit. Zugleich scheint den Revolutionären in Wien die Situation mehr und mehr zu entgleiten, wie Kewall schreibt:

In der heutigen Nacht haben sich wieder bedauerliche Fälle von Meuchelmord gegen einzelne Garden ergeben (...) Ein großer Theil der Bevölkerung will endlich Ruhe und Sicherheit, denn es ist schrecklich, wie weit die Unsicherheit jetzt geht. In einer etwas späteren Abendstunde kann man jederzeit ermordet werden.

Benjamin Kewall wohnt in der Jägerzeile 66, der heutigen Praterstraße. Hier erlebt er Revolution und Konterrevolution aus allernächster Nähe mit. Als liberaler Jude misstraut Kewall dem Deutschnationalismus vieler Revolutionäre ebenso wie den diversen slawischen Nationalismen, die anno 48 zu revolutionärer Blüte gelangten.

"Vor allem, nachdem er selber aus Böhmen stammte, gab es eine große Skepsis gegenüber den slawischen Nationalisten, den tschechischen Nationalisten", erklärt Gasser. "Er bringt immer wieder kritische Äußerungen gegenüber diesen nationalen Bewegungen und sieht sie als Vorboten für einen Zerfall der Monarchie." Womit Kewall ja, langfristig gesehen, recht hatte.

Alltag und Invasion

Kewalls Tagebuch bietet faszinierende Einblicke in den Alltag des revolutionären Wien. Dabei geht es nicht immer todernst zu. Schwer geprüft wird der leidenschaftliche Kaffeehausgeher Kewall in den Oktobertagen 1848 auch aus nicht-politischen Gründen.

Es ist schrecklich, wie schlecht der Caffee ist, den wir Armen jetzt trinken müssen.

Das ist freilich das geringste Problem der Wiener Revolutionäre. Seit Wochen belagern kaiserliche Truppen die Stadt. Am 24. Oktober 1848 scheint es ernst zu werden mit der Invasion der konterrevolutionären Kräfte.

In der Nacht wurden wieder Barricaden gebauet, für den Fall, daß Windischgrätz mit seinen Truppen in die Vorstadt dringt. Unsere mobile Garde ist die buntscheckigste Armee, die ich je gesehen habe. Übergelaufene Soldaten aller Waffengattungen, Studenten und Arbeiter in oft malerischer Tracht bilden den Kern unserer Besatzung. Der kriegerische Geist ist auch in die Weiber gefahren, denn gestern haben auch Damen von robister Constitution gefochten, und die Männer, welche nicht ausrücken wollten, wurden weidlich ausgezankt.

2.000 Tote und zehntausende Verwundete fordert die Schlacht um Wien. In den letzten Oktobertagen des Jahres 1848 ist er ausgeträumt - der Traum von Freiheit, Verfassung und Demokratie.

Nach siebenstündiger Vertheidigung wurde die Barricade verlassen, ich ging also ein weißes Tuch schwenkend den jubelnd anmarschierenden Grenadieren entgegen. Bald überzeugte ich mich, daß sie nicht in freundlicher Absicht kommen und was es heißt, eine Stadt in Sturm zu nehmen. Mit den anderen Soldaten kamen auch Croaten und verlangten sogleich schimpfend: "Geld!" Man gab ihnen, was man gerade in der Tasche hatte. Es kamen jedoch immer mehr und mehr, und einer packte die Hausfrau, verlangte Geld und drohte, sie zu erstechen (...)Um den Jammer der Frauen zu mildern, bat ich einen der vorbeiziehenden Offiziere, doch nicht zu erlauben, daß die Croaten morden und rauben. Er erwiderte achselzuckend: "Es ist so befohlen worden."

Der Schrecken nach dem Ende

Die Rache des Fürsten Windischgrätz ist furchtbar. Die Revolutionsführer Wenzel Messenhauser, Alfred Julius Becher und Hermann Jellinek sowie Robert Blum, Abgesandter der Frankfurter Nationalversammlung, werden - wie viele, viele andere Revolutionäre - standrechtlich erschossen. Windischgrätz errichtet ein Schreckensregime, die Errungenschaften der Märzrevolution werden zum größten Teil wieder eliminiert.

"Ich würde sagen, es war eine Militärdiktatur, die auch keine Justiz mehr kannte. Das ging so weit, dass auch in Theatervorstellungen nicht mehr die Polizei für Ordnung sorgte, sondern dass sich das Militär für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der Stadt verantwortlich fühlte", erklärt Gasser.

Das Spitzelwesen Metternichscher Provenienz kehrt zurück. Oft werden angebliche Opponenten auf bloße Denunziation hin exekutiert. Von all dem berichtet Benjamin Kewall in seinem Tagebuch. Ein spannendes Dokument - das die tumultuösen Ereignisse der Jahre 1848/49 in farbiger Anschaulichkeit lebendig werden lässt.

Service

Buchpräsentation "Erlebte Revolution 1848/49" von Wolfgang Gasser, Mittwoch, 24. November 2010, 19.30 Uhr, Jüdisches Museum Hohenems

Wolfgang Gasser (Hrsg.), "Erlebte Revolution 1848/49. Das Wiener Tagebuch des jüdischen Journalisten Benjamin Kewall", Böhlau Verlag

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