Interpretationen einer Welt der Zeichen

Mythen des Alltags

1957 erschien in Frankreich Roland Barthes berühmter Streifzug durch die Populärkultur "Mythen des Alltags", der über die Jahrzehnte hindurch selbst zu einem Mythos wurde. Der Suhrkamp Verlag hat jetzt den Klassiker der strukturalistischen Philosophie neu aufgelegt.

Als Sprachwissenschaftler und Philosoph eröffnete Barthes eine vollkommen neue Sichtweise auf die Produkte der Konsumwelt und schrieb eine Reihe ideologiekritischer Essays, die heute als Standardwerk strukturalistischer Philosophie gelten.

Ins Deutsche übersetzt wurde ursprünglich allerdings nur ein Bruchteil der französischen Originalausgabe. Dieses 1964 in Deutsch erschienene Bändchen liegt nun in einer vollständigen Neuübersetzung vor, die um mehr als zwei Drittel erweitert wurde.

Geschmäcker, Trends und Moden

Roland Barthes untersuchte Mitte der 1950er Jahre, was wir heute als Elemente der Populärkultur bezeichnen würden. Dabei richtete er seinen Blick auf allgemein im Gespräch befindliche Zeiterscheinungen. Barthes konzentrierte sich auf neue Produkte des Konsums und sich ausbreitende Lebensgewohnheiten, aber auch auf die dahinter stehenden Methoden der Werbung. Er analysierte Auftritt und Wirkung glamouröser Persönlichkeiten und breit diskutierte Themen aus der Medienwelt, womit er auch Filmproduktionen oder Ausstellungen ins Spiel brachte.

Im Zentrum standen Geschmäcker, Trends und Moden, welche das Leben in Frankreich zu dieser Zeit prägten. Berühmtes Beispiel für diesen Ansatz: Roland Barthes Beschreibung des "Neuen Citroën". Damals der schnittige DS 19, mit sich stromlinienförmig nach hinten verjüngender Karosserie.

Ich glaube, dass ein Automobil heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist. Soll heißen: eine große epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch, ein ganzes Volk zehrt, das sich ein vollkommen magisches Objekt aneignet.

Zeichensysteme des Alltags

In Form kurzer, prägnanter Essays erschienen Roland Barthes Betrachtungen zunächst - von 1954 an -in der Literaturzeitschrift "Les Lettres nouvelles", wo sie sofort Aufsehen erregten. Als ausgebildeter Literaturwissenschaftler und Kritiker wendete sich Barthes keineswegs den neuesten literarischen Ereignissen zu. Der Text, der ihn interessierte, waren die Zeichensystemen des Alltags und damit Ausstrahlung und Bedeutung der Phänomene. Den Citroën beschreibt er als Objekt des Begehrens, der auf sein Publikum wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint:

Eifrig betastet es die Ränder der Fenster, es streicht mit der Hand über die Gummifugen, die das Heckfenster mit seiner verchromten Einfassung verbinden. Mit der DS beginnt eine neue Phänomenologie der exakten Passung (...) was natürlich die Vorstellung einer unbeschwerten Natur wecken soll.

Gewissermaßen im Austauschverfahren verhilft eine Wagentype dem kleinbürgerlichen Leben zu göttlichem Aufstieg.

Das Objekt wird hier völlig prostituiert, in Besitz genommen: Kaum hat die Göttin den Himmel von Metropolis verlassen, wird sie vom Volk binnen einer Viertelstunde profaniert und vollzieht mit diesem Exorzismus exakt die Bewegung des kleinbürgerlichen Aufstiegs.

Verdichtungen kulturellen Ausdrucks

In mehr als 50 analytischen Skizzen widmet sich Roland Barthes darüber hinaus der Welt des Catchens, der Darstellung der "Römer im Film" und der "Verbreitung von Schockphotos". Kurz gesagt: Es rücken Alltagsphänomene ins Scheinwerferlicht, die sich heute über Facebook, Sneakers oder gebrauchte Klamotten aus dem Second-Hand-Laden als Verdichtungen kulturellen Ausdrucks manifestieren.

Als "Mythen des Alltags" 1957 erschienen, war Roland Barthes Textsammlung eine Sensation im intellektuellen Frankreich. Erstmals war das gewöhnlich als natürlich erlebte Tagtägliche als System zusammengesetzter Zeichen, dargestellt worden, das nach kulturellen oder ökonomischen Interessen willkürlich ausgerichtet ist.

Ein System der Kommunikation

Roland Barthes Buch wurde zu einem Schlüsselwerk der philosophischen Strömung des Strukturalismus. Dies unterstützt ein breiter theoretischer Abschnitt. Hier erklärt Barthes den "Mythos" als System der Kommunikation im Sinne einer pointierten Botschaft: "Der Mythos ist eine Weise des Bedeutens, eine Form."

Roland Barthes macht sich auf die Spurensuche nach solchen Bedeutungen als Verdichtung von Zeichen und bedient sich der Semiologie, als Lehre der Zeichen. Weil diese aber Bedeutungen unabhängig von ihrem Inhalt untersucht, führt er sie in eine Mythologie über, um dem ideologischen Gehalt der Zeichen nachzugehen.

Vergnüglich zu lesen verknüpft Roland Barthes so einen durchaus einfach verständlichen theoretischen Abriss mit Nahaufnahmen aus dem populären Alltag, die so nebenbei auch noch ein Stück großer Literatur sind.

Service

Roland Barthes, "Mythen des Alltags - Erste vollständige deutsche Ausgabe", aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann, Suhrkamp Verlag

Suhrkamp - Roland Barthes