Der neue Roman von António Lobo Antunes

Mein Name ist Legion

In "Mein Name ist Legion", seinem 19. Roman, wendet sich der Portugiese António Lobo Antunes, Arzt und Schriftsteller und einer der fleißigsten und konsequentesten Autoren der Gegenwart, einem sozialen Biotop zu, das in seinem Oeuvre bislang nicht vorkam - aus dem Blickwinkel unerwünschter afrikanischer Zuwanderer aus den ehemaligen Kolonien in ihren Konflikten mit den einheimischen weißen Unterschichten.

Studiogespräch

Peter Zimmermann und Sigrid Löffler über Antonio Lobo Antunes, den Sie zu Beginn über seine Arbeit sprechen hören.

Immer schon hat Lobo Antunes seine Themen aus den gesellschaftlichen Widersprüchen der portugiesischen Zeitenwende von 1974 gewonnen, der so genannten "Nelkenrevolution", die dem Regime des Diktators Salazar ein Ende machte und auch die letzten Reste von Portugals Weltreich hinwegfegte – die afrikanischen Kolonien Angola und Moçambique kamen frei, das Mutterland trug dafür die sozialen Kosten. In all seinen Romanen bisher beschreibt der Autor den Zerfall und das unglückliche Nachleben des einst staatstragenden Bürgertums sowie das Weiterwirken kolonialer Strukturen auch nach dem Ende des Kolonialreichs. Stets geht es diesem Autor um Portugals wurmstichige vergangene Größe und seinen zähen Niedergang in Resignation und Stillstand, während die alten Machtstrukturen in Staat, Kirche, Geheimpolizei und Großkapital weiterexistieren, allem Aufbruch im Wege stehen und allen Fortschritt verhindern.

In seinem neuen Roman "Mein Name ist Legion" ändert der Autor nur die Perspektive und den Schauplatz: Stagnation und Verfall der portugiesischen Gesellschaft werden hier erstmals von ganz unten gezeigt, aus dem Blickwinkel unerwünschter afrikanischer Zuwanderer aus den ehemaligen Kolonien in ihren Konflikten mit den einheimischen weißen Unterschichten. Schauplatz ist ein Elendsviertel in der Stadtbrache im Nordosten von Lissabon, in dem vornehmlich Schwarze und Mischlinge aus Afrika gestrandet sind, deren Integration in die portugiesische Gesellschaft misslungen ist oder gar nicht versucht wurde. Ihr Name ist tatsächlich Legion, individuelle Namen schreibt ihnen auch der Autor nicht zu. "Wir sind Neger, und es gibt keinen Ort, der uns akzeptiert." Verschärft wird die Chancenlosigkeit der schwarzen Migranten durch den allgegenwärtigen Rassismus der hoffnungslos abgehängten und sozial deklassierten Einheimischen, die allein ihre Hautfarbe gegen die verachteten und gefürchteten Afrikaner ins Treffen führen können.

Erkennbar wird eine Barackensiedlung, zusammengenagelt aus den Resten verlassener ehemaliger Villen, Lagerhäuser und Schuppen und eingeklemmt zwischen Müllkippe, Friedhof, Autobahn und einem zur Kloake verkommenen Rinnsal. In diesem Problemviertel versuchen sich die namenlosen Alten aus Afrika mit einer Art von Landwirtschaft durchzufretten, mit kläglichen Gemüsegärten und der Aufzucht von Hühnern und Ziegen. Auch die Jüngeren sind ohne Arbeit, leben von Prostitution oder Drogenhandel und Kleinkriminalität. Die Jüngsten schließen sich zu gewalttätigen, bewaffneten Jugend-Gangs zusammen. Eine solche Bande, bestehend aus schwarzen und farbigen Jungen zwischen zwölf und neunzehn Jahren, die Autos klauen, Tankstellen und Minimärkte überfallen, in die Villen von Sintra einbrechen, Passanten ausrauben, Frauen vergewaltigen und das ganze Viertel und die nähere Umgebung terrorisieren, ist der Auslöser der Romanhandlung – sofern man bei Lobo Antunes überhaupt von einer Romanhandlung sprechen kann.

Vergeblich versucht die Polizei, dieser Jugend-Bande Herr zu werden, wie dem Protokoll eines (gleichfalls namenlosen) Polizeimeisters zu entnehmen ist, das den Roman eröffnet und gegen Romanende abermals zitiert wird. Der Polizist, der kurz vor der Pensionierung steht, und seine jüngeren Kollegen beginnen eine dilettantische Belagerung des Slums. Sie lauern den Jugendlichen zwischen Dornengestrüpp, vertrockneten wilden Feigenbäumen und einer stillgelegten, von Unkraut überwucherten Bahnstation auf und gehen auch mittels Brandlegung gegen sie vor.

Einige der Jungen werden von der Polizei getötet – obwohl sich die Polizisten darüber im Klaren sind, dass die meisten Waffen der Jungen nur Hammer, Scheren, Schraubenzieher und Spielzeugpistolen sind. Gegen Ende muss der protokollführende Polizeimeister einräumen, dass es sich bei der Bande, "mit Ausnahme eines dicken Negers voller Armbänder und Ringe, in der Mehrzahl nicht um gesunde Jugendliche, sondern um Kinder handelte, die sich nicht wie unsere entwickelt hatten, ausgezehrt waren, zu große Jacken und lächerliche Hüte trugen, eine Handvoll rachitischer Kinder, die sich wie für ein Spiel feierlich als Männer verkleideten".

All diese Geschehnisse werden nicht auf herkömmliche Weise erzählt. Eine chronologisch fortschreitende Romanhandlung im Sinne präzise referierter Ereignisse findet bei Lobo Antunes nicht mehr statt. Stattdessen gibt es mehrere Erzählerstimmen, die sich zu Wort melden, deren Identität sich dem Leser aber erst allmählich, wenn überhaupt, erschließt. Da der Autor all diesen "Ich" sagenden Stimmen keine Namen zubilligt, gelingt dem Leser die Zuordnung nur über bestimmte Kernsätze und Kernphrasen, die der Autor refrainartig einsetzt, um die Sphäre und den Erinnerungsraum einer bestimmten Erzählerperson zu kennzeichnen. Diese einzelnen Stimmen werden durch Leitmotive, etwa ihre jeweils eigentümlichen Standard-Sätze, charakterisiert und lassen sich durch zugeordnete und immer wieder auftauchende Phrasen oder Requisiten identifizieren. Das Erzählverfahren beruht also auf einem ausgeklügelten System von Kennsätzen, die in durchkomponierten Wiederholungen und leichten Variationen so angeordnet werden, dass eine dicht gewirkte Partitur von Stimmen entsteht.

In diesem polyphonen Stimmengewirr ist der Plot aufgelöst, alles ist immer Gegenwart, alle Zeiten sind aufgehoben in einer allumfassenden Gegenwart der redenden Stimmen, Handlung wird einzig durch die abwechselnden Monologe der Romanstimmen erkennbar. Jede dieser Stimmen grübelt, klagt, träumt, hadert mit sich und der Welt, schweift ab, taumelt und irrt durch anbrandende Assoziationen, erinnert sich an früher, an die Schule, an das Elternhaus, an vergangene Kränkungen, an weiterschwärende Verletzungen und Zurückweisungen, an Momente des Glücks, der Enttäuschung und Entfremdung. Nicht einmal der Protokoll führende Polizeimeister kann bei der Sache bleiben, immer wieder schweift er ab zu Erinnerungen an seine verstorbenen Eltern, seine gescheiterte Ehe oder seine entfremdete Tochter: "Wenn so viele Erinnerungen brodeln, entzieht sich einem der Kopf", bemerkt er entschuldigend. "Ich höre, wie er alte Begebenheiten bewegt, Menschen und Dinge von ihrem Platz verrückt und Unglück wieder hervorholt, das ich vergessen glaubte, das aber letztlich bleibt."

Leicht zugänglich ist diese Erzählweise nicht. Lobo Antunes macht es seinem Leser nicht einfach. Es bleiben Rätsel, keineswegs immer gelingt es, aller Leser-Aufmerksamkeit zum Trotz, die Stimme zu identifizieren, die gerade spricht, oder die Zeitebene richtig zuzuordnen. Doch eines verbindet alle Stimmen, trotz Gewalttätigkeit, Bosheit, Elend, Verrat, Rassen- und Klassenkonflikten: Hinter aller schroffen Gefühlsabwehr wird eine große Bedürftigkeit der Figuren spürbar, eine Sehnsucht nach Nähe. Sie alle leiden unter einem Mangel an Zuwendung, ohne diesen Mangel zugeben zu können. Ein vereinsamter weißer Alter nimmt eine junge Mulattin aus dem Slum zu sich, wohl wissend, dass sie ihn betrügt und bestiehlt, doch er kann den Trost ihrer Gegenwart nicht entbehren. Eine fünfzigjährige weiße Prostituierte folgt einem Anführer der Jugendbande, einem dicken schwarzen Achtzehnjährigen mit Armbändern und Ringen, in die Barackensiedlung, weil sie, ohne es sich einzugestehen, von seinem Bedürfnis nach Mütterlichkeit berührt ist.

Immer spürbar bleibt allerdings die alles vernichtende und mit sich reißende Zeit. Nichts hält ihr stand. Das Grundgefühl des Romans ist die verheerende Gewissheit, "dass die Dinge sich verbrauchen und ihren Wert verlieren". Dieses Grundgefühl macht diesen Roman zu einem poetischen Alptraum, überwältigend in seiner Intensität, Opulenz und Sinnlichkeit. Der Lohn für die Mühen des Lesers ist es, dass er dank Lobo Antunes Portugal gleichsam von innen kennenlernen kann.

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