Gesammelte Gedichte von H. G. Adler

Andere Wege

Ein dickes und gewichtiges Buch ist anzuzeigen: auf mehr als eintausend Druckseiten versammelt es das lyrische Gesamtwerk von H.G. Adler. Dass der 1988 in London verstorbene Autor, der Theresienstadt und Buchenwald überlebt hat und als einer der letzten Vertreter der Prager Deutschen Literatur gilt, ein derartig umfangreiches lyrisches Werk hinterlassen hat, war bislang weitgehend unbekannt.

Umso höher ist es dem Kärntner Drava-Verlag anzurechnen, dieses Werk jetzt erstmals in seinem gesamten Umfang und in genau jener Zusammenstellung zu präsentieren, die Adler dafür selbst vorgesehen hatte: Unterteilt in neun chronologisch gereihte Gruppen, die von 1927 bis 1987 reichen und damit exakt sechs Lebensjahrzehnte umfassen. Die neun Gruppen wiederum sind in zahlreiche einzelne Zyklen gegliedert, in die hinein Adler jene 1.200 Gedichte setzte, die er unter dem Gesamttitel "Andere Wege" als sein lyrisches Vermächtnis verstand.

Die beiden Herausgeber des Bandes, Katrin Kohl und Franz Hochenender, haben sich strikt an die Vorgaben des Autors gehalten: 22 Jahre nach Adlers Tod wird somit erstmals der eigentliche Kern seines literarischen Schaffens sichtbar - die Lyrik, zusammengefasst in einem Band, der Zugänglichkeit auch insofern schafft, als er um eine informatives Nachwort, eine Zeittafel, ein Register und nur sehr knappe, aber durchaus ausreichende editorische Anmerkungen erweitert ist.

Ein "dunkler, erratischer Block"

Michael Krüger, der Chef des Hanser-Verlages, hat sich in den letzten Jahren vor allem um die Prosabücher H. G. Adlers bemüht; so erschien erst im Vorjahr bei Zsolnay der große und eben auch nicht leicht zugängliche autobiografische Roman "Panorama" in einer neuen Ausgabe. Zur Edition der Lyrik steuert Krüger ein kurzes Begleitwort bei, in dem er davon spricht, dass es sich beim Werk von H. G. Adler um einen "dunklen, erratischen Block" handelt, "der die Brutalitäten des 20. Jahrhunderts" quasi "in sich verkapselt hat."

Die Metapher, die Krüger verwendet, ist trefflich gewählt, denn eine feste Kapsel aus Form hält in den Gedichten von H. G. Adler Inhalte fest, die von sich aus alles andere zu überwuchern, ja das Humane insgesamt zu suspendieren drohen. In besonderer Weise gilt dies für den Zeitraum von 1942 bis 1945. "Gedichte aus der Lagerzeit" nennt Adler jenes Herzstück der Sammlung, darunter der Zyklus "Theresienstädter Bilderbogen", in dessen zweitem Gedicht unter dem schlichten Titel "Auf dem Bahnhof" die folgenden vier Zeilen stehen:

Das Menschenvieh wird ausgeladen,
Unglimpflich schauert ihm und frostig.
Es knattern schrille Geräusche in Schwaden,
Eisnebel schlitzen Gedärme rostig.

Schreiben als Überlebensstrategie

In einem Aufsatz mit dem Titel "Dichtung in der Gefangenschaft als inneres Exil" hat H. G. Adler, dessen historiographische Bücher über die Konzentrationslager längst zu den Standardwerken der Holocaust-Forschung zählen, das Schreiben von Lyrik als eine Überlebensstrategie beschrieben. "Technisch Kompliziertes und formal Konservatives", so schreibt der Autor, wählte er in diesen Gedichten ganz bewusst, "um sich von der widrigen Gegenwart zu distanzieren und durch Hingabe an zeitlose Werte (s)eine Menschenwürde zu behaupten."

Mit diesem späteren theoretischen Satz wendet sich H. G. Adler wohl auch gegen Adornos Verdikt der Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz. So glatt indes, wie es scheint, geht das Programm vom Erhalt der Menschenwürde im Erhalt der Form nicht einmal an den eigenen Gedichten auf, denn insbesondere in den frühen Lagergedichten bedrohen die Beobachtungen, die der Autor gezwungenermaßen macht, alle lyrischen Formen, in die hinein sie gelegt werden.

Distanzierter Beobachter

Sich selbst, seine Schmerzen und seine Ängste nimmt H. G. Adler gerade nicht in die eigenen Gedichte mit hinein. Wie wir aus dem Prosabuch "Panorama" wissen, gehört auch dies zum Programm des Überlebens: Ein lyrisches Ich, das von sich spricht, wollen und können sich diese Gedichte nicht mehr tragen, stattdessen herrscht in ihnen eine kühl-distanzierte Form der Beobachtung vor, die dem Motiv der Zeugenschaft unterstellt ist.

Poetologie in ihrem eigentlichen Sinn, nämlich als innere Anteilnahme an der Welt, befindet sich in den Lagergedichten von H. G. Adler in einem permanenten Ausnahmezustand: Kapseln gegen die Welt, in die hinein sie geworfen wurden, sind diese Gedichte, und von allen Sinnen sind die Erfahrungen, die sie mit den ihnen verbliebenen Sinnen machen.

Kapselgefühl nicht los geworden

Der bei weitem größte Teil der Gedichte, die H.
G. Adler geschrieben hat und die sich jetzt in dem Band "Andere Wege" versammelt finden, ist nach 1945 in England entstanden. Die formalen Bindungen an konventionelle Formen gibt der Autor dabei nicht auf, auch wenn er sich um 1970 zeitweise auf ein Spiel mit etwas freieren Formen einlässt.

In Korrespondenz und im Austausch stand der Autor während dieser Jahrzehnte mit allen Größen der deutschsprachigen Lyrik: Erich Fried, Ilse Aichinger, Michael Hamburger, Ingeborg Bachmann, Helmut Heissenbüttel, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker werden im Nachwort genannt. Das Kapselgefühl indes gegen sich selbst vermochte die Lyrik H. G. Adlers nie mehr ganz abzulegen. Auf den Plan gerufen scheint davon eine leidenschaftliche Lektüre, zu der der vorliegende Band dann auch allen Anlass und breitesten Raum bietet.

Service

H. G. Adler, "Andere Wege. Gesammelte Gedichte", Drava Verlag

Drava - Andere Wege