Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit

Dem Land geht es schlecht

Der britische Historiker Tony Judt hat über die Gefahr und die Herausforderungen der "Europäischen Idee" geschrieben und die Rückkehr des politischen Intellektueller heraufbeschworen. Im August 2010 ist er gestorben, jetzt wurde sein Vermächtnis auf Deutsch veröffentlicht.

Wiederbelebung der Sozialdemokratie

Als Tony Judt sein "Traktat über unsere Unzufriedenheit" schrieb, war er, wie er es selbst ausdrückte, "ein Bündel toter Muskeln, das denkt". Aufgrund einer Nervenkrankheit nicht mehr fähig, sich zu bewegen, diktierte er diesen Text, in dem er, wie schon oft in den Jahren davor, einen auf den ersten Blick unpopulären Standpunkt erläutert.

Er plädiert nämlich dafür, das politische Fossil Sozialdemokratie ins Spiel zu bringen, um den Gesellschaften heute weitgehend diskreditierte Grundwerte wie Moral, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität oder Gemeinwohl wieder zurückzugeben.

Die Sozialdemokratie steht nicht für eine ideale Zukunft, sie steht nicht einmal für die ideale Vergangenheit. Aber von allen Optionen, die uns zur Verfügung stehen, ist sie die beste.

Judt meint damit nicht die Sozialdemokratie, wie sie seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Tony Blair oder Gerhard Schröder definiert wurde - als sogenannte "Neue Mitte", die sich nicht mehr von den marktliberalen konservativen Parteien abgrenzte. Er spricht tatsächlich von jener Sozialdemokratie, die sich nach 1945 als ausgleichende politische Kraft zwischen Marktwirtschaft und Gemeinwohl definiert hat.

Politik des Ausgleichs

Der britische Historiker meint die Sozialdemokratie, die in Europa in den 1960er und 1970er Jahren für eine Stabilität und Prosperität gesorgt hat, die einzigartig in der Geschichte war, diese Mischung aus Liberalismus und Staatsinterventionismus, wie sie in der Theorie vom englischen Ökonomen John Maynard Keynes bereits in den dreißiger Jahren eingefordert wurde. Tony Judt schwebt genau jene Sozialdemokratie vor, die spätestens 1989, mit dem scheinbaren Ende der Geschichte und der global wirksamen Monopolstellung der freien Marktwirtschaft obsolet geworden schien.

Wozu sich mit linken Positionen herumschlagen, wenn es nun um selbstregulierende Märkte, das freie Spiel der Arbeitskräfte und die uneingeschränkte Entfaltung des Individuums ging? Die politische Linke hatte ein Legitimationsproblem - und wenn einzelne Akteure auf dem politischen Feld von einem "Dritten Weg" sprachen, von einem Versuch also, Kapitalismus und Sozialismus zusammenzudenken, dann war eisiges Schweigen noch die freundlichste Reaktion, die ihnen zuteil wurde.

Verschärfte Ungleichheiten

Aber was ist in den zwanzig Jahren seither geschehen, fragt Tony Judt? Hat sich die Marktwirtschaft positiv auf die demokratische Entwicklung im Westen wie im Osten ausgewirkt? Nicht wirklich, wie man leicht feststellen kann.

Es stimmt nicht, dass die Globalisierung zu einer gerechteren Einkommensverteilung führt, wie das von ihren liberaleren Verfechtern gern behauptet wird. Zwar verringern sich die Ungleichheiten zwischen einzelnen Ländern, doch die Ungleichheiten innerhalb eines Landes verschärfen sich eher noch. Wirtschaftswachstum an sich garantiert weder Gleichheit noch Wohlstand, ist keineswegs ein zuverlässiger Motor der wirtschaftlichen Entwicklung.

Die Welt ist zudem alles andere als sicherer und berechenbarer geworden, nicht zuletzt durch ein nie da gewesenes Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich. Die Folge davon ist ein Maß an Kontrolle und Überwachung, das einen Aufstand der Bürger zur Folge haben sollte, meint Judt.

Stattdessen versinken Gesellschaften, die sehr viel zu verlieren haben, in Apathie, als wäre alles, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus den Erfahrungen mit Diktaturen, Kriegen und Wirtschaftskrisen hervorgegangen ist, nichts mehr wert. Vertrauen zum Beispiel. Eine starke Öffentlichkeit und starke politische Institutionen, die nicht von Wirtschaftslobbies gegängelt werden. Ein Sinn fürs Gemeinsame. Und nicht zuletzt ein Staat, der mehr vorgibt als ein paar Spielregeln - ein Staat, der sich als Unternehmer nicht aufgegeben hat, der Sozialleistungen garantiert und Finanzmärkte kontrolliert.

In grotesk ungerechten Gesellschaften geht auf Dauer jede Brüderlichkeit verloren. So lächerlich dieser Begriff auch klingen mag, Brüderlichkeit ist eine notwendige Voraussetzung von Politik überhaupt. Jede Gemeinschaft stützt sich auf ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, des gegenseitigen Vertrauens. Gemeinsam ein Ziel zu verfolgen ist außerordentlich befriedigend. Wir wissen schon lange, dass Ungleichheit nicht nur moralisch fragwürdig ist - sie befördert auch Ineffizienz.

"Individuen und Familien"

Was haben die mit geradezu religiösem Eifer vorangetriebenen Privatisierungen, Evaluierungen und Optimierungen der Gesellschaft wirklich gebracht? Eine Frage, die sich nicht nur Tony Judt stellt. Vor allem, so Judt, haben sie Bindungen aufgelöst, die Bindungen des Einzelnen zum Staatsganzen, des Bürgers zur Politik. Es gibt kein gemeinsames Projekt mehr, es gibt bloß noch, um es mit Margaret Thatcher zu sagen: Individuen und Familien.

"Dem Land geht es schlecht": Der Titel des Buches bezieht sich nicht auf ein konkretes Land, sondern auf ein weit verbreitetes Lamento. Nahezu jeder schimpft auf unfähige Politiker, auf die Macht global agierender Konzerne, auf Gier und Amoral, doch niemand scheint eine Vorstellung davon zu haben, dass erstens die Welt einmal anders funktioniert hat, und dass zweitens eine vernünftige Alternative zur freien Marktwirtschaft durchaus vorstellbar ist.

Das Problem dabei ist nur, dass viele Menschen, die an den herrschenden Verhältnissen leiden, sich zugleich damit schwer tun, die zentralen Botschaften neoliberalen Denkens abzulehnen. Es ist nicht leicht, den eigenen Vorteil hintanzustellen, höhere Steuern zu zahlen, Verzicht zu üben, solidarisch und empathisch zu sein, gemeinschaftlich statt individuell zu denken.

Die Illusion der goldenen Zukunft

Wie man weiß, trägt gerade die sogenannte Mittelschicht, die statistisch gesehen nicht gar so weit von der Armutsgrenze entfernt ist, Gesetzesänderungen zugunsten der Reichen - also die Umverteilung von unten nach oben - bereitwillig mit. Warum? Weil die Mittelschicht von der Illusion durch die Krise getragen wird, der Wohlstand sei in greifbarer Nähe. Man will sich also durch solidarisches Verhalten keine Schranken für eine goldene Zukunft auferlegen.

An dieser Haltung zerschellt die Linke, seit ihr das Proletariat abhanden gekommen ist. Auch dieses ist ja größtenteils in der Mittelschicht aufgegangen. Insofern ist Tony Judts Plädoyer für eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie sympathisch. Die Frage ist nur, ob sich da noch etwas wiederbeleben lässt oder ob sich nicht doch eher eine Bewegung formieren muss, die die klassischen Parteien hinter sich lässt und möglichst undogmatisch Fragen der Moral, der Demokratie, des Gemeinsamen und der Einschränkung individueller Freiheiten zugunsten eines gesellschaftlichen Gesamtwohls neu verhandelt.

Tony Judt konnte das Modell einer Sozialdemokratie nach der Sozialdemokratie nicht mehr näher beschreiben. Sein Traktat über unsere Unzufriedenheit ist allerdings ein im besten Sinn des Wortes engagierter Text, der ein klares Ziel verfolgt: alle negative Energie umzuleiten in die Erneuerung des demokratischen Systems von unten her, also durch den Bürger. Und das hat etwas mit Revolution zu tun, nicht im Sinne von Umsturz, sondern von kollektivem Willen.

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Tony Judt, "Dem Land geht es schlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit", aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork, Hanser Verlag

Hanser Verlag - Tony Judt