Österreichischer Diplomat filmte Dissidenten

Seltene Dokumente aus der Sowjet-Zeit

In Moskau werden dieser Tage seltene Filmdokumente über die russische Dissidenten-Szene präsentiert: Super-8-Material, das der frühere österreichische Kulturattaché und spätere Direktor der Nationalbibliothek Johann Marte in den 1970er und 80er Jahren in Moskau drehen konnte.

Kulturjournal, 07.03.2011

Eine Zeitreise von Bedeutung für die russische Kunstgeschichte: Es dürfte sich um die frühesten bewegten Bilder aus dem Moskauer Untergrund handeln.

Künstlerisches Biotop

Der junge Kulturrat an der österreichischen Botschaft in Moskau kam 1974 in ein interessantes künstlerisches Biotop. Eine Freiluftausstellung sowjetischer Nonkonformisten am Moskauer Stadtrand war gerade von einem Bautrupp buchstäblich niedergewalzt worden und sollte als Bulldozer-Ausstellung in die Geschichte eingehen. Trotz dieses brutalen Vorgehens hatten Künstler auf sich aufmerksam gemacht, die mit dem offiziellen sowjetischen Kunstbetrieb nichts zu tun haben wollten.

Der junge österreichische Diplomat Johann Marte machte sich damals auf den Weg, einige Künstler dieser verbotenen Szene mit seiner einfachen Super-8-Kamera aufzusuchen: "Mich interessierte das, was sich so in den Ecken der sogenannten Supermacht abspielt - in den Küchen, in den Wohnungen. Damals hat das schon begonnen, da hat man in den Wohnungen Kunst gezeigt, die sonst nicht gezeigt werden durfte, die sogenannte nonkonformistische Kunst."

Ältesten Filmaufzeichnungen zum Thema

Nach mehr als dreißig Jahren werden nun die Filmaufnahmen von Johann Marte das erste Mal öffentlich in Russland gezeigt. Simon Mraz, der Direktor des österreichischen Kulturforums in Moskau, organisierte zusammen mit dem Staatlichen Zentrum für zeitgenössische Kunst eine Ausstellung, in der nicht nur das Filmmaterial, sondern auch einige Werke der Künstler zu sehen sind.

Für die Kuratorin der Ausstellung Sinaida Starodubzewa hat die Präsentation besondere Bedeutung: "Zunächst einmal deshalb, weil die bis jetzt ältesten Videoaufzeichnungen über die russische inoffizielle Kunst in Moskau aus den Jahren 1984/85 stammen. Jetzt haben wir Material, das zehn Jahre älter ist."

Einzigartiges Material

Die Wohnungen, Werkstätten, Ateliers, Ausstellungs- und Lebensräume rufen eine Zeit wach, die auch in Moskau inzwischen längst Geschichte ist: "Alles, was wir aus diesem Bereich der Kunst an visuellem Material kennen, haben wir nur als Fotografien. Hier sehen wir das erste Mal Künstler wie Wasili Sitnikow, Wadim Kosmatschow in ihren Ateliers, Anatoli Brusilowski; das ist einzigartiges Material."

Johann Marte hat damals vielen Künstlern geholfen, dem Komponisten Alfred Schnittke etwa, er war Anlaufstelle und Gesprächspartner für Schriftsteller und Übersetzer. Die gesamte Szene der nonkonformistischen Kunst jener Tage decken die Aufnahmen naturgemäß nicht ab. Neben den bereits Genannten haben noch Jewgeni Izmailow, Otari Kandaurow, Wladimir Petrow-Gladki, Wladimir Sytschow und Aida Chmeljowa Eingang in den Katalog gefunden, der zur Ausstellung erschienen ist.

Unterschiedliche Kreise und Gruppierungen

"Die Szene in den 1970er Jahren war ja nicht einheitlich" so die Kuratorin Sinaida Starodubzewa. "Da gab es unterschiedliche Kreise und Gruppierungen, manche waren damals populär und sind heute vergessen. Die Einschätzungen haben sich geändert und es wäre auch seltsam, wenn sie heute alle Klassiker der modernen Kunst wären."

Dass man unter den von Johann Marte Besuchten auch Ilja Glasunow findet, einen Maler, der heute ein Staatskünstler im unangenehmsten Sinn des Wortes ist, zeigt, welche Karrieren und Lebenswege hier möglich waren. Einige der gezeigten Künstler sind inzwischen verstorben, andere emigriert, der damals durch seine ironisch-kritische Kollagen bekannt gewordene Anatoli Brusilowski pendelt heute zwischen Deutschland, Frankreich und Russland und wird von einer führenden Moskauer Galerie vertreten.

"Als ich die Filme gesehen habe, war Nostalgie natürlich ein ganz bestimmendes Gefühl. Die Filme stellen doch einen sehr deutlichen Kontakt zu der Zeit her und man meint, noch einmal diesen Geruch der Keller zu spüren", sagt Brusilowski.

Diplomat wurde überwacht

Diese Kontakte zwischen Künstlern und westlichen Diplomaten waren nicht eigentlich illegal, aber es war klar, dass die Staatsmacht diese Besuche nicht schätzte. Als Johann Marte für den Bildhauer und Grafiker Wadim Kosmatschow eine private Ausstellung im Hof der österreichischen Botschaft veranstaltete, war für die Staatsmacht das Maß des Erträglichen überschritten.

Johann Marte erinnert sich: "Als ich das zweite Mal zum Atelier kam, um weitere Skulpturen aufzuladen, war schon der KGB da und hat mich gefilmt. Die Situation war nicht unbedingt angenehm."

Szene in ihrer Ganzheit betrachtet

Und sie war deshalb so unangenehm, weil der offizielle sowjetische Künstlerverband daraufhin die Rückkehr des jungen Diplomaten nach Österreich forderte. Allerdings, soweit kam es dann doch nicht: "Anschließend war ein Empfang auf der Botschaft. Und da kam ein Beamter des Kulturministeriums, der mir wohlgesinnt war. Er hat mich verwarnt und gesagt: Ich habe sie noch einmal gerettet, machen sie so etwas nie mehr, ein zweites Mal kann ich sie nicht retten."

Dass sich der junge Diplomat und spätere Direktor der Österreichischen Nationalbibliothek von dieser Mahnung wenig beeindruckt zeigte und weiterhin die kulturelle Szene Moskaus in ihrer Ganzheit betrachtete, ist ein großes Verdienst. Johann Martes Filmmaterial dokumentiert einen interessanten Abschnitt des russischen Kulturlebens, der sonst so nicht erhalten wäre.