Uli Hufen über russische Gaunerchansons

Das Regime und die Dandys

Blatnoi - so nannte man die Gauner, Kleingangster und Ganoven, die in der ehemaligen Sowjetunion systematisch verfolgt wurden. Blatnoi gibt's auch heute noch im Reiche Wladimir Putins. Ähnlich wie die Mafia in Italien pflegen auch die Blatnoi ihre ganz speziellen musikalischen Traditionen. Der deutsche Journalist Uli Hufen hat sich nun auf die Spuren der sogenannten Blatnjak-Musik geheftet.

"Du musst das richtig verstehen, Söhnchen", belehrt ein Blatnjak-Veteran den Autor, "all diese Blat-Lieder, in Wahrheit hat das mit den Lagern nichts zu tun. Das ist Kunst. Richtige Kriminelle hören diese Musik nicht." Blatnjak, das Genre der Gaunerchansons, höchst populär in der ehemaligen Sowjetunion, erzählt zwar von Dieben und Gangsterbräuten, aber immer kokett und voller Lebensfreude. Verfasst und interpretiert in Blat, in der Sprache der Diebe, ist es mehr eine Auflehnung gegen ein in geordneten Bahnen verlaufendes Leben als die Huldigung eines kriminellen Akts. Man tut so, als wäre man kriminell, in Wirklichkeit will man seinen Spaß haben. Und wenn eine Spaßbremse in Gestalt eines Stalin, daherkommt, übersiedelt man in den Gulag, lässt sich dort Lieder einfallen, um sie nach der Rückkehr zum Besten zu geben.

Tatsächlich war es unter Stalin ein krimineller Akt, Gaunerchansons zu singen, der Blatnjak war verboten. Die Intellektuellen Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow, die in ihren Schriften über den Gulag das Terrorregime Stalins dokumentierten, hatten mit den russischen Ganoven nichts am Hut und lehnten deren Lieder ab. So klingt auch Schalamows Beschreibung der Gefängnislieder in seiner Erzählung "Apoll unter den Ganoven" einigermaßen herablassend:

Als Zeitreisender in Russland

Der deutsche Journalist und Autor Uli Hufen gehörte laut Selbstdefinition zu jener raren Sorte von DDR-Bürgern, die Russisch in der Schule nicht nur hatten, sondern auch gelernt haben. Als er Ende der 1990er Jahre in Moskau zum ersten Mal ein Blat-Lied hört, versteht er trotzdem nichts. "Aber meine Ohren und mein Herz waren weit offen", schreibt er.

Daraufhin begibt sich Uli Hufen auf eine Recherchereise nach Odessa und landet quasi als Zeitreisender in der literarischen Hauptstadt des revolutionären Russland, als am Beginn des 20. Jahrhunderts der Klezmer-Jazz aufkam und drei der berühmtesten russischen Chansons des 20. Jahrhunderts entstehen.

Gleich zu Beginn von "Das Regime und die Dandys" macht Uli Hufen klar, dass es ihm nicht darum geht, ein Nachschlagewerk zum russischen Gaunerchanson zu verfassen. Viel mehr ist das Buch Ausdruck einer Begeisterung über eine sowjetische Musikkultur, die dem Regime nichts entgegen zu setzen hatte, sondern es schlichtweg ignorierte.

Dementsprechend ist einer der bekanntesten Chansonniers Russlands, Wladimir Wyssozki, der ebenfalls Blatnjak interpretierte, dessen Konzerte aber beim staatseigenen Melodija-Label verlegt wurden, in diesem Buch nur in Nebensätzen vertreten. Mit dem gleichaltrigen Arkadij Sewernyi verband ihn nicht viel mehr als die Trunksucht.

Arkadij Sewernyi, dem König des Gaunerchansons, widmet Uli Hufen den Hauptteil seines Buchs. Ein Znirchterl mit Anzug, Hut, Gitarre, Zigarette und einer raumgreifenden Stimme, die so gar nicht ins Bild passen will. Sewernyi hatte jahrelang keinen festen Wohnsitz, was in der Sowjetunion verboten war, er sang Lieder, bei denen dem Publikum das Herz aufging, die aber ebenfalls verboten waren. Eine seiner wenigen legalen Handlungen war unbotmäßiges Saufen. Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1980 hat er mehr als 100 Tonbandalben eingespielt.

Röntgenaufnahmen als Schallplatten

Die Karriere des Arkadij Sewernyi geht Hand in Hand mit Aufkommen und Triumph des Magnitisdat, dem analog zum Samisdat operierenden Tonträgeruntergrund in der Sowjetunion. Der Magnitstad nahm seinen Anfang in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. Schellackrohlinge gab es nicht, daher behalf man sich mit Röntgenaufnahmen aus Krankenhäusern. Man presste die Musik auf Röntgenbilder von Brustkörben, Rippen, Knochen. Diese Aufnahmen wurden als sogenannte "Musik auf Rippen" unter der Hand in der gesamten Sowjetunion verbreitet.

"Das Regime und die Dandys" ist auch deshalb ein derart sympathisches Buch, weil Uli Hufen aus seiner eigenen diebischen Freude an skurrilen Anekdoten keinen Hehl macht. In Kombination mit seinem ungeheuren Wissen über sowjetische Liedkultur entwirft er eine Popkulturgeschichte der Sowjetunion bis hin zum Revival des Gaunerchansons in der Gegenwart.

Harte Männer und leichte Mädchen

Dass Blatnjak ein durch und durch männliches Genre ist, in dem das leichte Mädchen das Gegenstück zum Ganoven darstellt, wird endgültig in jenem Kapitel klar, das dem 2009 verstorbenen Interpreten Kostantin Beljajew gewidmet ist. Von ihm sagt Hufen: "Niemand mischt wie er politische Satire mit ironischen Anzüglichkeiten und hochexplizitem sexuellem Klamauk."

Insofern ist auch Hufens Aussage hochinteressant, dass künftige Forschergenerationen in der Lage sein werden, allein anhand von Beljajews drei großen Konzerten in den 1970er Jahren eine Vorstellung von der Sowjetunion zu entwickeln, wie sie kein Geschichtsbuch liefern kann.

Revival

Die neuesten Strömungen russischer Chansonkultur behagen dem Autor wenig. Das mag auch damit zusammenhängen, dass in den 1990er Jahren der Gangsterslang bisweilen zur Politsprache wurde. Wenn der Präsident selbst androht, Banditen im Scheißhaus kaltzumachen, hat das Gaunerchanson als Gegenkultur selbstverständlich ausgesorgt.

Zwar entstehen heute keine neuen Gaunerchansons, dennoch findet ein Revival statt, das vor allem dem Radio-DJ und Musiker namens Graf Hortiza zu verdanken ist. Diesem Mann sowie einigen Querverbindungen zwischen dem US-amerikanischen Gangsta-Rap und dem sowjetischen Blatnjak und Ausführungen zur russischen Band Leningrad, die den Blatnjak mithilfe von Punk und Ska ins 21. Jahrhundert rettet, widmet Uli Hufen das konsequent offene Ende des Buches. Und entfacht damit eine ungebremste Lust, mehr von dieser Musik zu hören.

Service

Uli Hufen, "Das Regime und die Dandys", Rogner & Bernhard

Das Regime und die Dandys
Rogner & Bernhard - Das Regime und die Dandys