Aufsätze von E. M. Cioran

Über Deutschland

Der rumänisch-französische Autor E. M. Cioran hat seinen festen Platz unter den Denkern des 20. Jahrhunderts und gehört mit seinen Aphorismen und Essays zu den großen Stilisten der französischen Sprache. Doch auf die leuchtenden Augen und verschwörerischen Blicke, die seine Leserinnen und Leser Anfang der 1980er Jahre verband, trifft man heute, 16 Jahre nach seinem Tod im Juni 1995, kaum mehr.

Vor 30 Jahren hatte der radikale Skeptiker und religionskritische Mystiker Hochkonjunktur, weil der Einbruch gängiger Fortschrittsideologien sein außenseiterisches Denken aktuell werden ließ. Davor war er seit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Buch, der von Paul Celan übersetzten "Lehre vom Zerfall", ein Geheimtipp gewesen. Sein radikaler Pessimismus, der alle Welt- und Lebenskonzepte unterminierte, war im Paris des Existentialismus ein Fremdkörper, er selbst hatte sich als "Eremit mitten in Paris" gefühlt.

Faszination und Skepsis gegenüber Mystik

Zeit seines Lebens hatten es ihm die Wüstenväter angetan, aber auch die Mystiker. Gegen ihre Faszination stand freilich von Anfang ein eine luzide Skepsis, eine "Übung in Entfaszination", wie er einmal formulierte. Schon seine Buchtitel lesen sich wie ein Programm: "Auf den Gipfeln der Verzweiflung", "Syllogismen der Bitterkeit" oder "Vom Nachteil, geboren zu sein" sind Kurzformeln seines Blicks auf ein "Dasein ohne Endergebnis".

Wer das Glück hatte, diesen philosophischen Befürworter des Selbstmordes in seiner Mansardenwohnung im Pariser Quartier Latin zu treffen, war erstaunt über die freundliche Zugewandtheit und intellektuelle Neugier, die ihm entgegenkam. Und über das schöne balkanisch gefärbte Deutsch seiner Jugend, das seinen radikalen Sprachwechsel von Rumänisch zu Deutsch unbeschädigt überstanden hatte und sich auch in prägnanten Briefen niederschlug.

Aufgewachsen am Pfarrhof

Paris war nicht Ciorans erste Heimat, auch nicht das siebenbürgische Hermannstadt, wo er zur Schule ging und die prägenden Jugendeindrücke erhielt, sondern das in zwölf Kilometer Entfernung liegende kleine Dorf Rasinari. Fährt man diese Strecke heute mit einer exotischen Straßenbahn an Wiesen und Feldern vorbei, kommt man in ein Dorf, wo Pferdefuhrwerke und Autos sich noch die Waage halten und Gänse am Bach spazieren.

Daneben steht, mit einer kleinen Gedenktafel versehen, der Pfarrhof, wo Ciorans Vater orthodoxer Pope war - was für eine produktive Umgebung für den Großmeister zersetzender Ironie, der sich gerade an der Religion abarbeitete und sich mit einem Satz von Flaubert identifizierte: "Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts."

Der andere Faschismus

Heute weiß man wesentlich mehr über die erste Hälfte seines Lebens, bevor er Ende der 1930er Jahre nach Paris kam. Mit einer Ausnahme liegen mittlerweile alle rumänischen Werke in deutscher Übersetzung vor, und seit 2008 sind seine gesammelten Werke in einem Band der Reihe Suhrkamp Quarto vereint - ausgenommen die Cahiers, seine Arbeitstagebücher, die 2001 in einer verstümmelten Ausgabe auf Deutsch erschienen sind.

Ciorans rumänische Jugendjahre haben immer wieder biografisches Interesse geweckt, vor allem wegen seiner eingestandenen Mitgliedschaft bei der "Eisernen Garde", der rumänische Variante des Faschismus. Wenn man das erwähnt, darf man freilich die politischen Bedingungen Rumäniens in der Zwischenzeit nicht aus den Augen verlieren: Dort hatte der Faschismus nicht, wie im Deutschland der Weimarer Republik, eine intakte Demokratie als Gegner, sondern eine zunehmend autoritäre Königsdiktatur, die durch ein Schein-Parteiensystem getarnt und in Wahlmanipulationen verwickelt war. Die rumänische Philosophin Marta Petreu hat eine Analyse der Beziehungen zwischen Cioran und dem aufkommenden rumänischen Faschismus vorgelegt, die 2005 unter dem Titel "An infamous past" auf Englisch vorliegt. Hier ist auch die einzige Möglichkeit, sich über Ciorans Buch "Die Verklärung Rumäniens" zu informieren, das als einziges nicht ins Deutsche übersetzt wurde.

Vom französischen Kulturjournalisten und Autor Patrice Bollon stammt ein Essay über Cioran, der 2006 auf Deutsch erschienen ist und ebenfalls seine rumänischen Jugendjahre analysiert. Dabei stellt sich heraus: Liest man Cioran im Kontext Rumäniens der 1920er und 1930er Jahre, verliert er an Originalität - nicht nur seine Nietzsche- und Schopenhauer-Lektüre ist sehr zeitbedingt, sondern auch die Kombination von Irrationalismus und russischer Religionsphilosophie. Und auch wenn man seine radikalen Phantasien über das in unlösbaren Problemen steckende und politisch unbedeutende Rumänien noch aus den Zeitumständen erklären kann, so sind seine Glorifizierungen Hitlers ein herber Schock.

Bewunderung für Hitler

Ciorans hat seine Faszination von Hitler und vom Nationalsozialismus in Zeitschriftenartikeln der Jahre 1933 bis 1935 geäußert, in denen er sich als Student in Berlin und München aufhielt. Rechtzeitig zum 100. Geburtstag hat der Suhrkamp Verlag den Band "Über Deutschland" herausgebracht, wo man etliche dieser Artikel erstmals auf Deutsch lesen kann. Nimmt man das Buch zur Hand, fällt zuerst einmal auf, dass der damals 22-jährige Cioran über schier unglaubliche Kenntnisse verfügt haben muss - weit über Philosophie und Literatur hinaus.

So ausführlich wie später nie mehr äußert er sich zur Kunstgeschichte - von Dürers "Melancholie" bis zu Bildern von Oskar Kokoschka. Ausführlich äußert er sich zu Hegel, aber auch zur "Psychologie der Weltanschauungen" von Karl Jaspers oder zu Ferdinand Bruckners Drama "Krankheit der Jugend". Auch bei dem großen evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth und der Dialektischen Theologie kennt er sich aus.

Und dann diese Sätze: "Es gibt keinen Politiker in der heutigen Welt, der mir größere Sympathie einflößte als Hitler." Oder: "Das Verdienst Hitlers besteht darin, einer Nation den kritischen Verstand geraubt zu haben." Der Artikel endet mit dem Satz: "Wir alle brauchen eine Mystik, weil wir aller dieser Wahrheiten überdrüssig sind, aus denen keine Flammen schießen."

Das ist das Atemberaubende: Hier zitiert ein hoch Belesener Heinrich Heines ironischen Satz "Zu fragmentarisch sind Welt und Leben", um endlich ein Ende zu machen mit allen Fragmenten und sich in die Faszination einer Welt aus einem Guss zu stürzen. Er ist sich dabei auch seiner Widersprüche bewusst, wenn er schreibt: "So gibt es Unvereinbarkeiten auf der Ebene der Vernunft, die im Leben zu vereinbaren Wirklichkeiten werden, da sie nun einmal existieren. So kannst du an allem zweifeln und dennoch für die Diktatur sein."

Buddhismus statt Hitlerismus

Doch es kommt noch schlimmer: Nach der Ermordung von Ernst Röhm und weiterer SA-Funktionäre durch das Nazi-Regime schrieb Cioran: "Was hat die Menschheit verloren, wenn einigen Schwachsinnigen das Leben genommen wurde?" Und eine halbe Seite später: "Solchen Menschen das Leben zu nehmen, das Blut solcher Bestien zu vergießen ist eine Pflicht."

Um es noch einmal zu sagen: Cioran war 23 Jahre alt, als er diese Ungeheuerlichkeiten schrieb. Schon drei Jahre später, 1937, schreibt er etwas ganz anderes: "Um in Deutschland nicht vom Hitlerismus vergiftet oder angesteckt zu werden, habe ich begonnen, den Buddhismus zu studieren." Dennoch stellt sich die Frage: Ist Ciorans ganzes Werk von Nazi-Faszination und antidemokratischen Irrationalismus kontaminiert? Schließlich beruft er sich ja bei seinen politischen Einstellungen auf eine "vitalistische Mystik", einen "Kult des unüberlegten Lebens" und argumentiert klar gegen den Wert eines menschlichen Lebens an sich.

Widersprüchliches Werk

Der Vergleich des Bandes "Über Deutschland" mit Ciorans französischem Werk zeigt aber auch ganz klar, wie er nach der Abkehr von seiner Hitler-Faszination sein ganzes Denken umbaut. Man kann es geradezu an einzelnen Begriffen ablesen: Das Wort "barbarisch" wird von einer enthusiastisch positiven zu einer durchgehend abwertenden Bezeichnung; der verachtete "Stil" wird Cioran später alles bedeuten und geradezu zum "Privileg jener Menschen, die in keinem Glauben Ruhe finden"; "Prophet" und "prophetisch", positive Schlüsselwörter des jungen Cioran, werden später strikt abgelehnt.

Es irritiert, dass Cioran seine Nazi-Faszination nie widerrufen und auch nicht eingehend analysiert hat. Doch auch wenn man Patrice Bollons Ansicht, seine ganze spätere Philosophie sei eine einzige lebenslange Auseinandersetzung damit, für überzogen hält, so ist doch klar: Ciorans luzide Skepsis, seine "Übung in Entfaszination" hat etwas zu tun, mit den Faszinationen seiner Jugend. Und vielleicht ist das ja eine produktivere Auseinandersetzung als schneller Widerruf oder oberflächliche Reue.

Für Cioran-Leser heißt das aber: Wer bisher vom luziden Stilisten und Skeptiker oder vom religionskritischen Mystiker fasziniert war, kommt um das neue Buch mit dem so harmlos daherkommenden Titel "Über Deutschland" auf keinen Fall vorbei. Ein endgültiges Urteil erlaubt es freilich nicht, denn es enthält nur 25 Aufsätze von weit über 140, wie der Übersetzer Ferdinand Leopold im Nachwort mitteilt. Aber auf jeden Fall liegt das Werk Ciorans zu seinem 100. Geburtstag zwar nicht vollständig, aber in all seinen Widersprüchen vor.

Service

E. M. Cioran, "Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937", Suhrkamp Verlag

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