Schärferer Kurs gegen Kritiker

Justiz sieht Buch als "Terrorakt"

In der Türkei mehren sich die Anzeichen für einen zunehmend autoritären Kurs gegen Journalisten und Oppositionelle. Der aktuellste Anlass dafür ist ein kritisches Buch, dessen Verbreitung von der türkischen Justiz mit einem terroristischen Akt gleichgesetzt wird.

Mittagsjournal, 02.04.2011

Christian Schüller

"Werkzeug des Terrorismus"

Der türkische Staat werde unterwandert, und zwar von einer geheimnisvollen muslimischen Kaderorganisation, behauptet der Journalist Ahmed Sik in seinem Buch "Die Armee des Imams". Auch bei Polizei und Justiz würden straff organisierte Islamisten immer mehr den Ton angeben - eine Provokation, die Wirkung gezeigt hat. Nicht nur wurde Ahmed Sik von schwer bewaffneten Polizisten aus dem Bett geholt und verhaftet. Auch nach seinem Manuskript, das noch nicht einmal fertig war, wird jetzt gejagt. Es sei ein "Werkzeug des Terrorismus", behauptet der Staatsanwalt, und jeder, der eine Kopie auch nur besitze, mache sich strafbar.

Tragisch und komisch zugleich

"Wir erleben heute in der Türkei etwas sehr Seltsames", meint die Schriftstellerin Belma Akcura. "Ein Buch, das Missstände aufdecken will und das noch nicht einmal fertig geschrieben ist, wird von der Justiz mit Terrorismus in Verbindung gebracht. Eine tragische und zugleich komische Situation!"

Religiöse Schubumkehr

Dabei ist das, wofür der Journalist Ahmed Sik seit vier Wochen im Gefängnis sitzt, alles andere als eine Neuigkeit. Seit etwa fünf Jahren, also während der zweiten Amtsperiode des Ministerpräsidenten Erdogan, gibt es im Staatsapparat eine Art Schubumkehr. Jahrzehnte lang hatte es in der Türkei als Vorteil gegolten, wenn man nicht religiös war oder seine Frömmigkeit zumindest für sich behalten hat. Jetzt ist es umgekehrt. Weltlich eingestellte Türken fühlen sich gegenüber religiösen Kollegen und Vorgesetzten benachteiligt. Auch in Polizei und Justiz rücken mittlerweile die Frommen schneller vor.

Verschwörungstheorie zur Auswahl

Teile der Justiz fühlen sich angegriffen und schlagen zurück. Hinter dem Autor des Buches stehe ein anderes mächtiges Netzwerk, bestehend aus Militärs und Nationalisten, die einen Putsch planen. Ahmed Sik habe "Die Armee des Imams" im Auftrag der Militärs geschrieben, um die Regierungspartei und ihre Anhänger zu verunglimpfen. Noch kann man sich als türkischer Zeitungsleser aussuchen, an welche der beiden Verschwörungen man glauben will. Vielleicht sogar an beide. Aber bei der Opposition, also bei allen, die nicht zum islamistischen Lager gehören, breitet sich allmählich eine Bunkerstimmung aus.

Download als "Widerstand"

Die Schriftstellerin Belma Akcura ist eine von 20.000 Türken und Türkinnen, die sich in den letzten Tagen das verbotene Manuskript aus dem Internet herunter geladen haben - aus Protest. "Das ist ein Akt des zivilen Widerstands", sagt sie. Nur ausdrucken will sie die Armee des Imam lieber nicht. Immerhin könnte es demnächst auch bei ihr eine Hausdurchsuchung geben, meint sie. Und dann gäbe es wohl Schwierigkeiten.