Abschluss von Gerhard Roths Romanryklus

Orkus - Reise zu den Toten

32 Jahre lang hat der österreichische Autor Gerhard Roth an seinem Lebensprojekt gearbeitet: an den beiden Romanzyklen "Die Archive des Schweigens" und "Orkus", die er als einen einzigen Großzyklus betrachtet. Nach 15 Bänden und knapp 6.000 Seiten beendet der 69-Jährige jetzt die Arbeit an diesem Riesenprojekt mit dem Roman "Orkus - Reise zu den Toten".

In diesem Band, einer Mischung aus Fiktion, Groß-Essay und autobiografischer Bekenntnisschrift, klingen noch einmal all die Themen an, die Gerhard Roth auch in seinen früheren Büchern beschäftigt haben: die NS-Vergangenheit Österreichs und das jahrzehntelange Schweigen darüber, die Auseinandersetzung mit den Grenzbereichen des Daseins, mit Wahn, Verbrechen und den Abgründen der menschlichen Destruktivität.

Roths "Lebenswerk"

Lang, lang ist's her. Mit dem Roman "Der Stille Ozean" hat Gerhard Roth 1980 die beiden Zyklen begonnen, die ihn über drei Jahrzehnte hinweg beschäftigt und bisweilen an den Rand seiner Kräfte gebracht haben. Jetzt, mit "Orkus", beendet der Autor die Arbeit an seinem Monumentalprojekt. Die Erleichterung darüber ist Gerhard Roth ins Gesicht geschrieben.

"Ich hab 32 Jahre lang daran geschrieben", so Roth. "Es handelt sich, wenn man so will, um mein Lebenswerk. Die Arbeit hat mich in den letzten fünf, sechs Jahren sehr belastet, physisch und psychisch. Ich habe dann schon den immer größer werdenden Wunsch verspürt, das Ende des Projekts noch erleben zu dürfen. Ich hatte mir dann die Latte gelegt, dass ich unbedingt vor meinem 70. Lebensjahr fertig werde." Und das ist Gerhard Roth gelungen.

Die "unsichtbare Existenz"

Bereits in seiner Kindheits- und Jugendautobiografie "Das Alphabet der Zeit", erschienen 2007, hat der Schriftsteller den muffigen Biedersinn der österreichischen Nachkriegszeit beschrieben, die von verbissenem Schweigen über den Nationalsozialismus geprägten Jahre seiner Jugend. In "Orkus", ebenfalls einer Art Autobiografie, setzt sich Roth nun mit seiner zweiten, seiner "unsichtbaren Existenz" auseinander, wie er schreibt: mit der Welt des Kinos, der Bücher, der Musik, der Oper und des Schauspiels, die ihn mindestens so sehr geprägt hätten wie die sogenannte Wirklichkeit.

Einer der zentralen Bezugspunkte von "Orkus" ist Dantes "Göttliche Komödie". Wie weiland der sprachgewaltige Florentiner steigt auch Roth in die Unterwelt hinab, ins Reich der Toten, denen er auf 670 Seiten seine literarische Reverenz erweist. Aber nicht nur verstorbene Freunde, Wegbegleiter und Feinde Gerhard Roths werden in "Orkus" porträtiert - Bruno Kreisky, Wolfgang Bauer, Thomas Bernhard, Simon Wiesenthal und der Psychiater Leo Navratil etwa -, nein, es treten auch all die Romanfiguren auf, die Roth-Fans aus früheren Bänden der beiden Zyklen kennen: der Untersuchungsrichter Sonnenberg, der Bibliothekar Konrad Feldt, der Journalist Viktor Gartner, der Arzt Dr. Ascher, der Pharmavertreter Paul Eck, sie alle lässt Gerhard Roth in "Orkus" noch einmal aufmarschieren und mit sich selbst, dem autobiografisierenden Ich-Erzähler, in Interaktion treten.

Fiktion und Wirklichkeit, erinnerte Wirklichkeit, verschwimmen in diesem 670-Seiten-Band auf unauflösliche Weise ineinander. Der Welt der Bücher misst der Erzähler ebenso viel Realität bei wie der sogenannten Realität selber.

"Ich wollte ein Buch schreiben, das zugleich ein Schlussstein für die beiden Zyklen ist - und ein Navigator", sagt Roth. "Man soll 'Orkus' am Anfang lesen können, bevor man sich entschließt, einen oder beide Zyklen zu lesen, man soll es aber auch am Ende lesen können, sodass es einem auch noch Neues bringt."

Selbst- und Welterforschung

Während der Lektüre von "Orkus" merkt man schnell: Das ist keines der flachwurzeligen, flott geschriebenen Prosawerke in schmucklosem Alltags-Talk, die in der deutschsprachigen Literatur derzeit ins Kraut zu schießen scheinen. Da geht ein Autor aufs Ganze. Gerhard Roth ist es um Selbsterforschung, Welterforschung zu tun; couragiert und nicht ohne eine gewisse Fasziniertheit lotet er die Grenzen des menschlichen Daseins aus, die Grenzen zu Wahnsinn, Depression und Tod.

Immer wieder zitiert Gerhard Roth seine künstlerischen Abgötter herbei: Kafka, Celine, de Sade, Büchner, Camus und vor allem Herman Melville, dessen "Moby Dick" er immer wieder als sein Lebensbuch namhaft gemacht hat. Roth, so erfahren wir, ist ein Lesejunkie: "Ich liebte die Bücher von Thomas Bernhard und las jedes einzelne mit Begeisterung", schreibt Roth auf Seite 454, "aber ich mochte ihn nicht als Person". Was war ihm an Bernhard unsympathisch?

"Ganz einfach, Thomas Bernhard hat mit dem Finger immer auf andere gezeigt und nicht auf sich selbst", sagt Roth. "Er hat sich zum Beispiel über Marianne Fritz, die Autorin eines gigantischen Werks, auf eine bösartige Weise geäußert, die ich unter aller Kritik finde. Auch über andere Menschen hat er leichtfertig bösartige Urteile geäußert, zum Beispiel über Bruno Kreisky, dem er einmal vorgeworfen hat, dass er sich mit einer lächerlichen Strickweste fotografieren hat lassen, er selbst aber hat sich mit Trachten- und Jägeranzügen ablichten lassen, die um nichts weniger spießig waren als das, was er Kreisky vorwarf. Und er hat uns - Turrini und mir - vorgeworfen, dass wir schwachsinnige Opportunisten wären, weil wir Texte zu einem Fotoband über Kreisky geschrieben haben. Er selbst war aber Mitglied der SPÖ, zwar nur zwei Tage, dafür ist er dann in den ÖVP-Bauernbund eingetreten und war mit dem ÖVP-Nationalratspräsidenten Alfred Maleta befreundet. Ich habe das alles genau beschrieben und meine Schlussfolgerungen daraus gezogen."

"Hass vereint mehr als Liebe"

Gerhard Roth lässt in seinem Buch keinen Zweifel daran, dass er sich über gewisse menschliche Grunddispositionen keine Illusionen macht.

"Ich glaube, dass der Hass die Menschen eher vereint als die Liebe", so Roth. "Der Hass auf irgendetwas oder irgendjemanden ist leicht hervorzurufen, wir haben das gesehen bei der Judenverfolgung im Dritten Reich, wir sehen das heute auch im Berufsalltag mancher Menschen - Stichwort: Mobbing. Ein Feind, der sich bietet, wird immer dankbar angenommen. Und ich glaube, dass die Liebe ein viel schwierigeres Unterfangen ist als der Hass. Die Liebe ist entweder eine Kopfsache oder eine Herzenssache, und dann landet man sehr oft auf dem Gesicht, während der Hass sehr oft in Form alltäglichen Tratsches oder alltäglicher Intrigen auftritt."

Der Parallelwelt mithilfe von Alkohol entkommen

Gerhard Roth, das hat er in seinen Büchern immer wieder deutlich gemacht, ist ein Linker, der sich über die Natur des Menschen so wenig Illusionen macht wie ein Rechter. Umso höher ist dem Autor sein politisches Engagement anzurechnen, sein unermüdliches Eintreten gegen Rassismus, Fremdenhass und die unheilvolle Kontinuität obrigkeitsstaatlicher Mentalitäten in der österreichischen Gesellschaft.

Erstaunlich offenherzig schreibt Roth in "Orkus" auch über seinen anscheinend doch recht großzügigen Alkohol-Konsum. "Ich glaube, dass der Alkohol mir sehr geholfen hat, mit diesem Riesenprojekt fertig zu werden", meint Roth. "Ich habe ja eine Parallelwelt gebaut, und in diesem parallelen Universum eigentlich mehr Zeit verbracht als in der sogenannten Realität. Wenn ich einmal keine Kraft mehr zum Schreiben hatte und ausbrechen wollte, hat das mitunter exzessive Ausmaße angenommen. Diese Exzesse haben eine gewisse Beruhigung gebracht und den nötigen Abstand zu den Dingen, die ich noch beschreiben wollte. Ich glaube, ich wäre ohne die Unterstützung durch Alkohol und später auch durch diverse Tabletten nicht in der Lage gewesen, das zu Ende zu führen."

Einer von Roths engsten Freunden, der Grazer Schriftsteller Wolfgang Bauer, ist an übermäßigem Alkoholkonsum zugrunde gegangen. Auch dem "Wolfi Bauer" setzt Roth in "Orkus" ein Denkmal. Ausgiebig beschreibt er die exzessiven Sauftouren - oft an die Grenze zur Bewusstlosigkeit gehend - die die beiden miteinander unternommen haben.

"Mein Suchtverhalten ist das Schreiben, und beim Wolfgang Bauer war es leider dann der Alkohol selbst", erinnert sich Roth. "Ich konnte mich auf diese Dinge einlassen, weil mir das Schreiben mein ganzes Leben hindurch immer wichtiger war als alles andere, das heißt, der Alkohol war mit letztlich nicht so wichtig wie die Kraft, weiterschreiben zu können. Und bei Wolfgang hat langsam aber sicher der Alkohol einen größeren Platz eingenommen als die Arbeit. Das war eine Tragödie, denn Wolfgang war ein großer Autor und ein wunderbarer Mensch, mit dem ich lange Zeit befreundet war."

"Idyllische Bedürfnisse"

"Orkus" ist wie erwähnt eine Hommage an die Toten, die Gerhard Roths Leben geprägt haben. Sein eigenes Verhältnis zum Thema Tod und Sterben hat sich in den letzten Jahren verändert, erzählt der Autor: "Bis zu meinem 50. Lebensjahr war ich dem Tod oft sehr nahe. Ich hatte auch starke Todeswünsche. Jetzt, wo ich älter werde und mich dem Tod nähere, habe ich eher den Wunsch weiterzuleben. Ich entdecke erst jetzt das Leben und habe immer mehr idyllische Bedürfnisse, weil mir die Natur und meine Umgebung und die Menschen, mit denen ich zusammen bin, immer näher werden."

Eine spannende Frage, nicht nur für Literaturwissenschaftler, ist die Frage, welcher literarischen Gattung "Orkus" eigentlich angehört. Sie wird auch in dem instruktiven Materialienband zu Gerhard Roth erörtert, den Jürgen Hosemann soeben als Fischer-Taschenbuch herausgegeben hat. Ist "Orkus - Eine Reise zu den Toten" ein Roman? Eine Materialiensammlung? Ein Monumental-Essay? Eine Autobiografie? Oder alles zusammen?

Am ehesten wohl Letzteres. "Orkus" ist ein unreines Produkt. Das ist, so möchte man sagen, gerade das Spannende daran. Absolute Reinheit schätzt der Kenner allenfalls bei Edelsteinen und bei Schnäpsen. In der Literatur fasziniert die Unreinheit. So gesehen ist "Orkus", dieser 670 Seiten starke Abschluss zweier Monumental-Zyklen, ein würdiger Schlussstein zu einer imponierenden Prosa-Kathedrale.

Service

Gerhard Roth, "Orkus - Reise zu den Toten", S. Fischer

Jürgen Hosemann (Hrsg), "Die Zeit, das Schweigen und die Toten - Materialien zu Gerhard Roths 'Die Archive des Schweigens' und 'Orkus'", Fischer-Taschenbuch

S. Fischer - Gerhard Roth