Über die Sinnhaftigkeit von Superlativen

Rekorde in der Musik

Luciano Pavarotti gilt nicht nur als der Meister des hohen Cs. Pavarotti hält auch den Rekord für den am längsten anhaltenden Applaus. Es gibt sie, die Superlative in der Musik. Doch ist es tatsächlich legitim, sportliche Maßstäbe in den Bereich der Musik hineinzutragen?

Der Mythos um das hohe C

Das schönste hohe C, die größte spielbare Orgel, die am längsten dauernde Komposition. Es gibt sie, die Rekorde in der Musik. Bestes Beispiel: Luciano Pavarotti gilt als Jahrhundertsänger, weil er alle neun Hohen Cs in Gaetano Donizettis "Regimentstochter" gesungen hat. 1967 begann so seine Weltkarriere. Heute ist es Juan Diego Florez, der mit dieser Gesangsleistung beeindruckt.

Pavarotti hält auch den Rekord für den am längsten anhaltenden Applaus: Am 24. Februar 1988 wurden an der Deutschen Oper in Berlin nach seinem Auftritt als Nemorino in Donizettis "Liebestrank" 115 Vorhänge registriert, bei 67 Minuten ununterbrochenem Applaus.

Publikum beschimpft Tenor

Der Ruhm eines Tenors scheint am Hohen C zu hängen. Oftmals wartet das Publikum und so mancher Rezensent nur auf das Gelingen oder Scheitern bei den heiklen Stellen. In Spanien gab es im Dezember 2000 einen Skandal: Mehrere Madrider Opernbesucher warfen dem argentinischen Tenor José Cura vor, bei Vorstellungen das Hohe C ausgespart zu haben. Und - obwohl er bei der Aufführung des Troubadour den hohen Ton sang, straften ihn die Opernfans mit Buh-Rufen und Beschimpfungen wie "Betrüger".

Daraufhin platzte dem Tenor der Kragen und er rief in den Saal: "Ein Teil des Publikums stinkt". Am nächsten Tag entschuldigte sich der Sänger für seine Entgleisung. José Cura forderte aber auch gleichzeitig das Publikum auf, darüber nachzudenken, ob seine künstlerische Leistung eine solche Respektlosigkeit verdiene.

Schönheit der Stimme zählt

Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz von der Tageszeitung "Die Presse" steht dieser Gier des Publikums nach hohen Tönen skeptisch gegenüber: "Es ist nicht nur der ein guter Tenor, der über ein schönes Hohes C verfügt." Vielmehr ist es die Schönheit der Stimme und die Gestaltung der Rolle, die zählt. Wer nur auf den hohen Ton wartet, würdigt nicht die extremen körperlichen Anstrengungen, die Sänger an einem Opernabend leisten.

Ein Instrument der Superlative

Die Orgel gilt ja ob ihrer Klangvielfalt als Königin der Instrumente. Und die größte Orgel steht - natürlich - in Amerika: Die Orgel des Wanamaker Department Store in Philadelphia, USA, ist die größte spielbare Orgel der Welt. Die Orgel besitzt rund 28.500 Pfeifen, die sich über fünf Stockwerke erstrecken.

Das Instrument steht im Innenhof eines sieben Stockwerke hohen Kaufhauses und wird täglich zweimal bespielt. Ein Organist ist fix angestellt, um das Instrument erklingen zu lassen: Wenn der mächtige Klang der Pfeifen ertönt, halten die Kaufhausbesucher für einen Moment inne und lauschen der Musik.

Riesenorgel mit breiter Klangpalette

Die Orgel des Wanamaker Department Store beeindruckt nicht nur durch ihre Größe. Der Leiter der Orgelbauwerkstätte Rieger in Vorarlberg, Wendelin Eberle, hat das Instrument zweimal gehört. Er schätzt die breite Klangpalette des Klangkörpers: "Ich bin von dem Instrument begeistert, weil es tatsächlich ein Orchester imitieren kann. Das ist mit einer normalen Orgel nicht möglich. Man wundert sich, wie gut dort die Orchestertranskriptionen klingen und wenn man die Augen schließt, glaubt man, vor einem richtigen Orchester zu stehen."

Für Wendelin Eberle ist Kaufhausatmosphäre und Orgelmusik kein Widerspruch. Im Gegenteil: Sobald ein Ton erklinge, kehre Ruhe im Kaufhaus ein und die Stimmung passe sich an die Konzertsituation an. Diese Art der Musik sei eine gute Alternative zur Berieselung durch musikalischen Einheitsbrei, der üblicherweise in Kaufhäusern geboten werde, so Eberle.

Tatsache ist jedoch, dass die Zeit der immer noch größeren Instrumente vorbei ist. Diese Klangkörper sind extrem fehleranfällig. Zwei Techniker kümmern sich das ganze Jahr über etwa um die Instandhaltung der Orgel im Wanamaker Store. Das zeigt deutlich die Grenzen solcher überdimensionaler Phänomene auf. Heute setzt man im Orgelbau wieder auf Qualität, nicht auf Quantität.

Kompositionen, die Grenzen sprengen

Als "Symphonie der Tausend" ist Mahlers 8. Symphonie bekannt. Sie erhielt den - von Mahler nicht geschätzten - Beinamen wegen ihrer riesigen Besetzung: Neben fünf Solisten stehen zwei Chöre, ein Knabenchor und ein großes Orchester auf der Bühne. Doch Mahler ging es in seiner Komposition nicht darum, alles bisher Dagewesene in den Schatten zu stellen. Er wollte alle ihm zur Verfügung stehende Klangmöglichkeiten ausschöpfen.

Ebenso extrem ist die Komposition "4'33''" von John Cage. Es ist als das "stillste" Stück in die Musikgeschichte eingegangen. Das Werk besteht aus drei Sätzen, für die in der Notenausgabe "tacet", also "schweigt" angegeben ist. Bei der Uraufführung 1952 in Woodstock zeigte der Pianist David Tudor die drei Sätze durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels an. Durch die Stille im Raum wird das Publikum zu einem Gestalter des Stückes: Das Rascheln der Konzertbesucher mit Zuckerlpapier, das unterdrückte Hüsteln oder aber ein herabfallendes Programmheft wird zum bedeutungsvollen, geräuschhaften Ereignis.

Von Rauschenberg inspiriert

Cage hinterfragt mit dieser Komposition die Definition von Musik und deren Interpretation. Inspiriert wurde das Stück übrigens durch die "White paintings" des Malers und Weggefährten von John Cage, Robert Rauschenberg. Der Maler hat in der Ausstellung seine weißen Bilder von schräg oben beleuchten lassen. So haben sich die Schatten der Besucher auf der Leinwand gespiegelt - die Betrachter wurden zum Gestalter des Bildes.

Die längste Komposition

John Cage ist der Komponist der am längsten dauernden Komposition. Es ist das Orgelwerk "ORGAN²/ASLSP" - hinter dieser Abkürzung verbirgt sich die Spielanweisung: "As slowly and Softly as Possible". In der Sankt Buchardi Kirche des Städtchens Halberstadt in Deutschland wird die Fassung für Orgel realisiert. Die vierseitige Partitur wird so gedehnt, dass einzelne Töne Jahre - oder sogar jahrzehntelang - erklingen.

Die Aufführung der Komposition wird 639 Jahre dauern - eine Zeitspanne, die für einen Menschen gar nicht erlebbar ist. John Cage geht es nicht um Provokation, um Aufmerksamkeit - er stellt mit diesem Werk den Zeitbegriff radikal in Frage. Dieser Superlativ in der Musik wirft also letztendlich philosophische Fragen auf, die um das kurze Dasein des Menschen auf der Welt kreisen.

Übersicht

  • Klassik