Jugenderinnerungen der Lyrikerin Oda Schaefer

Emanzipationsepos "Poll"

Ein 14-jähriges Mädchen sucht seinen Platz im Leben. An sich ist das keine neue Geschichte, doch der deutsche Regisseur Chris Kraus macht daraus ein beeindruckendes Emanzipationsepos. Angesiedelt ist der Film in Poll, einer Gutsanlage in Estland, zugleich auch der Filmtitel.

Kultur aktuell, 04.05.2011

Steter Sommerwind streift über die morbide Gesellschaft am Meer, umschwirrt ein historisches Panorama in gewaltigen Bildern, eine Erzählung des Erwachsenwerdens, die Geschichte einer untergehenden Klasse: Mit "Poll" kommt ein Werk in die heimischen Kinos, das mit einer Größe aufwartet, wie sie in der deutschsprachigen Filmlandschaft selten zu erleben ist. Unter der Regie von Chris Kraus entfaltet die deutsch-österreichisch-estnische Produktion das breite Gesellschaftsporträt einer Familie von Deutsch-Balten am Vorabend des Ersten Weltkrieges, das der Odem Thomas Manns zu umwehen scheint.

Schützendes Anwesen

Die junge Oda von Siering (Paula Beer) kommt im Sommer 1914 nach dem Tod ihrer Mutter zum Vater Ebbo (Edgar Selge) in die russische Provinz Estland, in der deutschsprachiger Adel herrscht. Ebbo lebt mit seiner Frau Milla (Jeanette Hain) in einem verfallenden, auf Stelzen postierten Anwesen im Meer, wobei Milla, frustriert von der Kälte ihres Mannes, ein Verhältnis mit dem Verwalter (Richy Müller) begonnen hat.

Geschlagen vom Verlust seines Lehrstuhles praktiziert Ebbo derweil neben gediegenen Lese- und Musikabenden Hirn- und Schädelforschungen in seinem umgebauten Sägewerk, wo er die Leichen estnischer Anarchisten seziert, die ihm von den zaristischen Offizieren geliefert werden. Oda bewegt sich in dieser ihr fremden Welt als Beobachterin, schreibt Gedichte und stößt schließlich zufällig auf einen verletzten estnischen Anarchisten (Tambet Tuisk), den sie gesundpflegt. Während die Welt außerhalb des schützenden Verstecks in sich zusammenbricht, erwachsen in Oda angesichts ihres Schützlings bis dato unbekannte Gefühle.

Panoptikum eines untergehenden Zeitalters

Kraus, auch für das Drehbuch verantwortlich, hat sich als Ausgangspunkt für seine Erzählung die Jugenderinnerungen seiner Großtante, der späteren Lyrikerin Oda Schaefer (1900-1988), genommen. Er entwickelt daraus eine Parabel, welche die verschiedenen Elemente wie Mädchenromantik, Panoptikum eines untergehenden Zeitalters und Landschaftsporträt gleichwertig miteinander verzahnt. Da klingt "Der Zauberberg" ebenso an wie Danzig-Schilderungen eines Günter Grass oder die Mischung aus vermeintlicher Idylle und Brutalität aus Michael Hanekes "Das weiße Band".

Das markante, namensgebende Gut Poll steht inmitten der Bucht, enthoben der Umwelt, und zerbröckelt doch ebenso wie die Gesellschaftsordnung, auf der es fußte. So schildert Kraus die heute praktisch vergessene Geschichte der Deutsch-Balten in satten Sommerfarben, gebannt in ruhigen Kamerafahrten, nicht nur auf das großartige Schauspielerensemble, sondern auch auf die Wirkung der Landschaft vertrauend. "Das ist am Arsch der Welt, aber an einem schönen Arsch", wie Erwin Steinhauer als Wiener Wissenschaftler meint, der Poll besucht und neben den Koproduzenten Danny Krausz und Kurt Stocker die österreichische Seite des Projekts verkörpert.

Text: APA, Red.

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