Analyse von Tahar Ben Jelloun

Arabischer Frühling

Was sich in den letzten Monaten in der arabischen Welt ereignet hat, rief Erstaunen und Überraschung hervor. Es ist hilfreich, die Ereignisse aus einer gewissen Distanz zu betrachten und sie sich von einem Kenner der Region, der Kultur und der Mentalität noch einmal erklären zu lassen. Dies ist der Anspruch, mit dem Tahar Ben Jelloun sein Buch über den arabischen Frühling verfasst hat.

"Ich habe dieses Buch als Erklärungsversuch für die Ereignisse in den arabischen Gesellschaften geschrieben." Dass es sich bei Tahar Ben Jellouns Buch um ein Instant-Produkt handelt und dass er mit seinen Reflexionen den Ereignissen zwangsläufig hinterherhinkt, lässt sich nicht übersehen. Schon vom Aufbau her offenbart das Buch seine improvisierte Entstehung. Unterschiedliche Textgattungen werden anscheinend willkürlich und unproportioniert aneinandergereiht.

Der Einzelne zählt nicht

Das Buch beginnt mit dem Versuch, sich in die Köpfe der gestürzten Herrscher Ägyptens und Tunesiens, Hosni Mubarak und Ben Ali, hineinzuversetzen und darzustellen, worüber sie sich wohl derzeit Gedanken machen. Anschließend charakterisiert Ben Jelloun die arabische Revolte im Allgemeinen.

Muslimbrüder in Ägypten

Auf jeweils wenigen Seiten nähert sich Ben Jelloun den politischen Ereignissen in Tunesien, Ägypten, Algerien, Jemen, Marokko und Libyen an. Manchmal zeichnet er geschichtliche Entwicklungen nach, manchmal stehen Einzelschicksale stellvertretend für die politische Situation im Land, manchmal analysiert er spezielle Aspekte, wie zum Beispiel die Rolle der Muslimbrüder in Ägypten.

Andere Situation in Algerien

Auch zu künftigen Entwicklungen gibt Tahar Ben Jelloun seine Einschätzung. In Algerien, so ist er überzeugt, wird die Revolte lange dauern und schwierig werden.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte

Ähnliche Analysen brachten in den letzten Monaten zahlreiche Qualitätsmedien, dafür hätte man Ben Jellouns Instant-Buch nicht gebraucht. Doch nun folgt auf 25 Seiten etwas Besonderes. Unter dem Titel "Der Funke" zeichnet Ben Jelloun in literarischer Form die Ereignisse nach, die am 17. Dezember 2010 zur Selbstverbrennung des 28-jährigen arbeitslosen tunesischen Akademikers Mohamed Bouazizi geführt haben.

Nach dem Tod seines Vaters versucht er, als fliegender Obst- und Gemüsehändler seine Mutter und seine Schwestern über Wasser zu halten. Er erträgt zahllose Demütigungen und weigert sich standhaft, die Polizeibeamten zu bestechen.

Der junge Mann versucht, mit dem Bürgermeister zu sprechen, um seinen Gemüsekarren wieder zu bekommen und wird abgewiesen. Er ist verzweifelt. Wovon soll er die Medikamente für seine Mutter bezahlen? Ohne Geld wird er seine Freundin Zineb nie heiraten können. Schließlich übergießt er sich vor dem Rathaus seiner Heimatstadt mit Diesel und stirbt zwei Wochen später an den Verbrennungen. Vergleichbar dem Schmetterling, der einen Tornado auslöst, bildete diese Selbstverbrennung den Auslöser der Revolte in Tunesien, die schnell auf andere Länder übergriff.

Authentische Blogs

Durch die literarische Umformung der Ereignisse eröffnet Tahar Ben Jelloun einen neuen Zugang zu ihnen und darin liegt seine Stärke. Er erklärt auch, wie ungewöhnlich und fremd eine Selbstverbrennung für den arabisch-islamischen Kulturkreis ist.

Dass dieses Buch überhaupt gedruckt wurde, liegt an seinem prominenten Autor. Wer Tahar Ben Jelloun kennt und schätzt, wird auch seine Sicht des arabischen Frühlings lesenswert finden. Wer dem Buch mit weniger Vorschuss-Wohlwollen begegnet, wird die beiden Zeitungsartikel aus dem Jahr 2003, die den Schluss des Buches bilden, deplaziert finden und vermissen, dass Ben Jelloun nicht mitteilt, auf welche Quellen er sich stützt. Vermutlich sind es die Internet-Blogs aus dem arabischen Raum. Doch die Kraft des Authentischen, die diese Blogs auszeichnet, fehlt Ben Jellouns Buch.

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Tahar Ben Jelloun, "Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde", übersetzt von Christiane Kayser, Berlin Verlag

Berlin Verlag - Arabischer Frühling