Märchen als Thriller

Wer ist Hanna?

Es ist eine der außergewöhnlichsten Großproduktionen der letzten Jahre: Schon nach den ersten Minuten von Joe Wrights Thrillermärchen "Wer ist Hanna?" ist klar, dass man alle gehegten Erwartungshaltungen über Bord werfen muss. Ein Mädchen als perfekte Überlebensmaschine, Cate Blanchett als CIA-Hexe und Schauplätze von Eiswüsten hin zu desolaten Vergnügungsparks.

Am meisten überrascht allerdings die Regisseurswahl: Statt Pop-Schlawinern wie Danny Boyle oder Alfonso Cuarón nimmt der bekennende Neoklassizist Joe Wright hinter der Kamera Platz. Zuvor zeichnete der Brite unter anderem für das Oscar-gekrönte Historiendrama "Abbitte" verantwortlich. "Wer ist Hanna?" ist allerdings nur die aktuellste Großproduktion, die sich vornimmt, ein klassisches Märchenthema in die Gegenwart zu transportieren. Von Rotkäppchen bis hin zu wilden Kuschelmonstern ist die Traumfabrik seit geraumer Zeit fest in der Hand von Kindergeschichten, die für ein erwachsenes Publikum aufbereitet werden.

Es war einmal...

Es war einmal ein Mädchen namens Hanna. Sie hatte ein neugieriges Gesicht und langes blondes Haar. Gemeinsam mit ihrem ernsten, aber liebevollen Vater lebte sie in einer finnischen Eiswüste. Sie lernte viele Sprachen und alles andere über die Welt, die sie noch nicht gesehen hat. In ihrer kleinen Holzhütte gab es einen Schalter. Hanna wusste, wenn sie diesen Schalter umlegt, dann wird sich ihre Welt verändern. Und weil sie so ein neugieriges, selbstbewusstes Mädchen war, hat es Hanna dann eines Tages einfach getan.

So beginnt "Wer ist Hanna?": als unterspieltes Märchen, in klaren, kühlen Bildern. Und dann kommt die böse Hexe ins Spiel: Durch den umgelegten Schalter weiß CIA-Walküre Marissa Wiegler ganz genau, wo sich ihr Zielobjekt Erik Heller mit seiner Tochter versteckt hält. Während ihrem Vater die Flucht gelingt, wird Hanna in ein geheimes CIA-Gebäude in Marokko gebracht. Aber das Mädchen hat nicht nur Sprachen, sondern auch Kampfkünste gelernt. Hanna bricht aus und wird von Marissa und ihren Neonazi-Schergen verfolgt. Sie weiß, wenn sie ihren Vater wiedersehen will, dann muss sie es bis nach Deutschland schaffen. Bis ins Geburtshaus von Wilhelm Grimm.

Die Böse Hexe von der CIA

Die Geschichte von "Wer ist Hanna?" stammt vom jungen Kanadier Seth Lochhead. Wie selbstverständlich amalgamiert er darin Agententhriller- mit Märchenfilm-Tropen. Wie selbstverständlich erzählt er die Geschichte dieses Mädchens, das zur Frau wird, indem sie Dutzenden Bösewichten das Handwerk legt - oder das Genick bricht. Und schließlich ihre eigene Identität findet.

Die meisten Märchen, ob von den Gebrüdern Grimm oder Andersen, sind immer auch Coming-of-Age-Geschichten, Erzählungen von jungen Außenseitern, die sich ihren Platz in einer lebensfeindlichen Welt erst erkämpfen müssen. Wie solch eine klassische Figur reist Hanna mit Fremden - in diesem Fall mit einer britischen Touristenfamilie - mit, freundet sich mit einer Gleichaltrigen an, weiß aber, dass ihr auf ihrer Queste niemand helfen kann, dass sie die diabolische Marissa, the wicked witch of the CIA, selbst besiegen muss.

Märchen haben Hochkonjunktur

Das Märchenhafte ist in "Wer ist Hanna?" erst auf den zweiten Blick erkennbar. Erst wenn man gelernt hat, hinter die sterilen Oberflächen, Verfolgungsjagden und Maschinengewehre zu blicken, zeigt sich die klassische Qualität dieser Geschichte. Märchen haben in der Filmindustrie momentan Hochkonjunktur.

Erst vor wenigen Wochen ist ein rundum erneuertes "Rotkäppchen" inklusive "Twilight"-ähnlicher Liebesgeschichte und rockigem Soundtrack über die österreichischen Leinwände geturnt. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Märchen gelten zwar gemeinhin als Kinderliteratur, formulieren aber nicht selten erschütternde und erhellende Erkenntnisse über zwischenmenschliche Beziehungen, tief begrabene Ängste und geheime Leidenschaften. Optimales Futter fürs Spektakelkino also.

Interessanterweise sind es aber vor allem seriöse, oder gar kunstsinnige Regisseure, die sich dieser Geschichten annehmen. Indie-Liebling Spike Jonze etwa fertigt 2009 eine Adaption des Kinderbuch-Klassikers "Wo die wilden Kerle wohnen" an. Für den Soundtrack zeichnet unter anderem Karen O, Frontfrau der erfolgreichen Indie-Band Yeah Yeah Yeahs verantwortlich. Auch "Wer ist Hanna?" profitiert von einem unkonventionell verschrobenen Soundteppich, angefertigt von den Soundmagiern The Chemical Brothers.

Das Richtige für die Zielgruppe

Während der generelle Tonfall in Kinoerzählungen immer infantiler wird, setzen ausgerechnet die verfilmten Märchen auf teilweise bierernste Seriosität. Wie alles in Hollywood, so ist auch das eine Frage der Zielgruppenbewirtung: Die aktuelle Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen mit ihren unfertigen Leben, Social-Networking-Attitüden und Freiberufler-Mentalitäten lassen sich im Kino den Verantwortungsdruck des Erwachsenseins aus den Köpfen massieren - und schwelgen gleichzeitig in Erinnerungen an ihre Kindheit - und die Märchen von damals.

So gesehen, wirkt die Kombination von Agententhriller und Kindergeschichte in "Wer ist Hanna?" gleich gar nicht mehr so unorthodox: Während die erwachsenen Kinder sehr wohl Thriller-Elemente inklusive Blut-Fontänen goutieren, überspannt Regisseur Wright diese kalte Oberfläche mit einem kuscheligen Teppich aus Erinnerungen und bringt die Essenz seiner Geschichte gut auf den Punkt.

"Wer ist Hanna?" will sich also nicht mehr entscheiden und schiebt Elemente aus zwei Welten ineinander, zeigt auf, dass das eine sehr wohl Teil des anderen sein kann. Nicht immer ist der Film dabei überzeugend, nicht immer geht das gefinkelte Planspiel auf. Wright stolpert über seine hübschen Bilder und coolen Inszenierungen. Letzten Endes aber ist diese "Hanna" ein Traumwesen, die personifizierte Unschuld, die sich Stück für Stück mit der Wirklichkeit auseinander setzen muss. Ein Entwicklungsroman für das 21. Jahrhundert eben.

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