Aus Altem etwas Neues machen

Margherita Spiluttini über "Kurtags Ghosts"

"Was ich als ergreifende Begegnung bezeichnen würde, das war die Aufführung im Konzerthaus von Marino Formenti: 'Kurtags Ghosts'. Davon gibt's auch eine CD, und die kann man nicht oft genug hören, weil sie unglaublich viel bietet." Die Architekturfotografin Margherita Spiluttini.

"Kurtags Ghosts" nennt der italienische Pianist Marino Formenti seine ungewöhnliche Produktion: Formenti kombiniert darin Kompositionen berühmter Klassiker mit Werken des 1926 geborenen ungarischen Komponisten György Kurtag: Bach, Boulez, Schumann, Chopin, Bartok oder Scarlatti werden in "Kurtags Ghosts" den zeitgenössischen Musikstücken Kurtags gegenübergestellt. Marino Formenti gelang es damit, Kurtag auf virtuose Weise zu porträtieren: Die "Ghosts" sind gleichsam die "Geister" der genannten Klassiker, die für Kurtags Leben und Wirken wichtig waren und ihn maßgeblich beeinflussten.

Nach jener Aufführung im Wiener Konzerthaus, von der Spiluttini spricht, war das Publikum derart berührt, dass es mit einer ergriffenen Schweigeminute vor dem Applaus dankte. Margherita Spiluttini zehrt bis heute von jener musikalischen Begegnung.

Margherita Spiluttini, Architekturfotografin

Man kann permanent etwas Neues herausfinden.

Kurtag als roter Faden

"Marino Formenti hat insgesamt 70 kurze Stücke zusammengestellt, der rote Faden ist Kurtag, aber dazwischen gibt's kurze Klavierstücke quer durch die Musikgeschichte, und das gibt ein neues Musikwerk mit einer großartigen Dramaturgie: Manche Musikstücke aus ganz unterschiedlichen Epochen gehen nahtlos ineinander über, andere haben eine längere Pause, die einen ähneln den nächsten, das andere ist eine große Gegensätzlichkeit. Es entstehen Dialoge - es ist eine Zusammensammlung von Hinweisen und Anekdoten, und man kann permanent etwas Neues herausfinden."

Immer wenn Margherita Spiluttini "Kurtags Ghosts" hört und in die einzelnen, relativ kurzen Stücke eintaucht, gerät sie in eine andere Stimmung. Und jedes Mal ist sie aufs Neue überrascht. Formentis Zusammenstellung sei wie der Blick auf ein reichhaltiges Leben mit seinen unterschiedlichsten Phasen zwischen Fröhlichkeit und Verzweiflung, so Spiluttini. Und auch der reiche Fundus, aus dem Formenti für sein Oeuvre schöpft, fasziniere sie.

Die Architekturfotografie revolutioniert

Die renommierte Fotografin, die einst das Genre der Architekturfotografie revolutionierte, indem sie die Abbildung eines Bauwerks mit künstlerischem Zugang gestaltete, benutzt ebenfalls ein Archiv, um daraus Neues für die Gegenwart zu erschaffen. An die 100.000 Bilder hat sie im Lauf der Jahrzehnte angesammelt - ein Schatz, aus dem sie heute schöpft, um Ausstellungen oder Publikationen zu gestalten.

"Marino Formenti hat ein großes Oeuvre in seinem Kopf oder in seinem Archiv, das er beherrscht, und es bereitet ihm große Lust, Dinge herauszunehmen und in ganz andere Zusammenhänge zu stellen. Und ich habe ein großes Archiv vor mir, und es ist lustvoll, Dinge herauszuholen und ein neues Werk zu machen. Das relativiert vieles und lässt einen offener schauen oder hören. Marino Formenti hat eine Zusammenstellung gemacht, die offen und spannend ist, die Musik ist gleichzeitig unschwer und trotzdem ungeheuer gehaltvoll."

Räume der Vergangenheit für die Zukunft

Margherita Spiluttini, die früher in aller Welt fotografierend unterwegs war, ist krankheitsbedingt seit längerer Zeit auf den Rollstuhl angewiesen. Über ihr Foto-Archiv, gleichsam die Chronik der nationalen und internationalen Architektur, bereist sie nun Räume der Vergangenheit und findet darin viel Material für die Zukunft. Durch die Krankheit entwickelte Spiluttini auch einen Blick voll Gelassenheit.

"So eine Krankheit ist eine große Zäsur, etwas wovor jeder Angst hat, und 'Rollstuhl' ist ein großes Tabu, aber irgendwann akzeptiert man seine eigene Endlichkeit, und dieses Bewusstsein bringt auch viel Ruhe. Wenn man weiß, man muss nicht mehr fit und jederzeit leistungsbereit sein, wird auch der Blick auf die Arbeit distanzierter, ich sehe alles analytischer."

Die Welt über die Architektur erklären

Die Abbildung der Welt über die Architektur, die Chronik der Bauwerke, oder die Verarbeitung eines Stücks Musikgeschichte: "Kurtags Ghosts" von Marino Formenti weckt in Spiluttini Geister, die Altes schufen und Neues ermöglichen:

"Wenn ich eine Ausstellung habe, werde ich im Archiv fündig, wohlbedenkend, dass das ein Archiv ist, das die Welt über die Architektur erklärt oder über den Raum oder Ähnliches. Formenti hat die Musik aus mehreren Jahrhunderten zur Verfügung, so groß ist das Archiv bei mir nicht, aber aus etwas Altem etwas völlig Neues zu machen, das verbindet mich mit ihm, und das gefällt mir unheimlich gut."