Dem Sprachmoralisten zum 75. Todestag

Das dritte Leben des Karl Kraus

Unter den zeitgenössischen Interpreten des Karl Kraus ragt Walter Benjamin durch seine Werkkenntnis und seine Loyalität hervor. Verehrung schließt respektvollen Widerspruch nicht aus. Benjamins letzter Kommentar porträtiert den Satiriker als einen hilflos vor dem verlassenen Grabmonument deutscher Sprachmoral Rasenden: "Die Ehren seines Todes werden unermesslich, die letzten sein, die vergeben werden."

Kraus hingegen war erfüllt vom Glauben an die Unsterblichkeit seiner Lebensleistung: Wenn das Aktuelle seiner Polemiken endlich in Vergessenheit geraten sein würde, wenn sich nicht mehr die Bilder der lebenden Objekte seiner Polemiken vor das Auge des Lesers drängen würden - des angeblich korrupten Kritikers Hermann Bahr, des erpresserischen Zeitungsherausgebers Imre Békessy oder des Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober, der für das Massaker vom 15. Juli 1927 verantwortlich war -, dann, und erst dann, wäre endlich der Weg offen für ein wahres Sprachverständnis seiner Texte. Dabei setzte er auf jene Altersgruppe, die ihm bei seinen 700 öffentlichen Vorlesungen zugejubelt hatte: Die Jungen würden leichter zu ihm finden.

Das zweite Leben

Tatsächlich war ihm ein zweites Leben vergönnt, das Benjamin wohl nicht vorhergesehen hat: Die 1968er-Protestgeneration erklärte Kraus zu einem der ihren. Das war ein wenig ein Missverständnis, das sich auf manche Ansichten des - im Übrigen doch recht konservativ orientierten - Kraus stützte und auf den aktionistischen Gestus, mit dem er sie vertrat: auf seinen Kampf für sexuelle Freiheit, gegen etwas, was man mit Herbert Marcuse als "Manipulation" durch die Presse übersetzte, seinen Pazifismus und seinen gelegentlichen Antikapitalismus. An einem geheimnisvollen Punkt schienen die Weltsicht der Fackel und die Parole "Make love, not war" kompatibel.

Karl Kraus über die Fragwürdigkeit des Fortschritts

Das zweite Leben des Karl Kraus war spektakulärer als das erste. Die Germanisten, die der Satiriker durch Kastration an der Fortpflanzung hindern wollte, verfassten voluminöse Dissertationen und ließen sich von Suhrkamp für eine wissenschaftliche Gesamtausgabe anheuern, und die Sekundärliteratur explodierte. Man hatte ja gleichzeitig das "Fin-de-Siècle Vienna" entdeckt, und wunderbare Geschichten kursierten und machten Kraus zu einer europäischen Figur.

Man lernte, dass er Wittgenstein inspiriert hatte, dass Freud anfänglich um seine Sympathie bemüht war, dass Canetti ihn zunächst bewundert und sich später von den "intellektuellen Hetzmassen" in den Kraus-Vorlesungen abgestoßen gefühlt habe. Schallplatten, an denen man seinen suggestiven Vortragsstil bewundern konnte, erschienen, und die einem "Marstheater" zugedachten, über 800 Seiten dicken "Letzten Tage der Menschheit" wurden vom ORF produziert.

Karl Kraus über die Kunst des Schreibens

Das Versandhaus "2001" reüssierte in den 1970er Jahren mit einem Reprint der kompletten "Fackel" in einer Auflage von 50.000 Stück, und wer die deutsche Qualitätspresse las, hatte den Eindruck, dass dieser Reprint von den journalistischen Erzfeinden des "Fackel"-Herausgebers viel benutzt wurde. Das Kraus-Zitat garantierte Prestige: Wer es verwendete, markierte seine Distanz zu jenem publizistischen Betrieb, den Kraus als Ganzes bekämpft hatte. Wie gesagt, das war ein glamouröses zweites Leben, aber wohl nicht das, von dem der Sprachmoralist geträumt hatte.

Karl Kraus über Kunst und Kritik

Und heute? Die angekündigte Gesamtausgabe ist nicht erschienen - anstatt dessen produzierte Suhrkamp eine Taschenbuchreihe der alten Werkausgabe, die mit einer gewissen Schwere die Regale der Auslieferungen füllte.

Nach wie vor aktuell

Seit 2006 ist Kraus - im urheberrechtlichen Sinne - "frei", doch die "Jungen" haben diese Gelegenheit nicht genützt. Wahrscheinlich ist es nicht schwer, ganze Chöre zu mobilisieren, die die Kantate von der ungebrochenen Aktualität der Kraus'schen Sprachkritik singen - doch "jung" sind die nicht. Hat jemand von den "Jungen" eine von Krausens sieben Shakespeare-Bearbeitungen gespielt? Gab es Lesungen seiner in acht Bänden gesammelten Worte in Versen?

Karl Kraus über Politik

Die "Dritte Walpurgisnacht" gilt zu Recht als prophetisches Buch, in dem Kraus aufgrund von Zeitungsberichten schon 1933 den Terror des "Dritten Reichs" analysierte - aber ungeachtet des ungebrochenen Faszinosums des "Dritten Reichs" scheint keiner das Bedürfnis zu haben, das Buch außerhalb der Gesamtausgabe honorarfrei zu drucken. Franz Moraks Plattenfassung hat auch schon mehr als zwei Jahrzehnte am Buckel.

Und weiter: Hat sich ein dem Regietheater verpflichteter junger Regisseur an eine vom Verlag nicht zensurierbare experimentelle Fassung der "Letzten Tage der Menschheit" gewagt? Laut Google: nein.

Karl Kraus über Sitte und Moral

Nur zum Vergleich: Der "Professor Bernhardi" des von Kraus nicht so recht geschätzten Arthur Schnitzler steht zurzeit auf dem Spielplan des Burgtheaters.

24.500 Seiten "Fackel"

Nur "2001" scheint Kraus die Treue gehalten zu haben: Im laufenden "Merkheft 242" offeriert es in gedruckter Form einen kompletten Kafka um EUR 9,99, sieben Bände Canetti um EUR 29,99 und 33 Stunden Hörwerke desselben auf MP3 um EUR 14,90. In der Abteilung "Literatur auf CD-ROM" gibt es drei Posten: 70.000 Seiten Karl May (plus 494 Porträtaufnahmen) auf einer CD-ROM um EUR 9,99, dann die "Digitale Jubiläumsbibliothek" mit 31 Texteditionen von Homer bis Zola (1,775.000 Seiten), 100 Stunden Tondokumente und über 27.000 Bilder, das alles auf zwei DVDs um EUR 39,99. Und in der Mitte: Karl Kraus - "Sämtliche Schriften", über 10.000 Seiten Text, mit allem, was Kraus zu Lebzeiten als Buch veröffentlicht hat, sowie alle 922 Nummern der "Fackel", 24.500 Seiten auf je einer CD und einer DVD um EUR 19,99.

Sieht so ein "drittes Leben" aus? Das ist wohl die falsche Frage. Es ist ein großer Erfolg, wenn ein Autor 75 Jahre nach seinem Tod so leicht zugänglich ist. Gleichzeitig zehrt diese Zugänglichkeit immer noch von dem Hype der 1970er Jahre - den "Jungen" wird Kraus tatsächlich immer hermetischer.

Was soll man mit einem Werk anfangen, in dem "Benedikt" als selbstverständliche Chiffre für den gleichzeitig bildungsbürgerlichen und kriegshetzerischen Journalismus steht, wenn man nicht weiß, dass Moriz Benedikt der Herausgeber der "Neuen Freien Presse" war, die noch dazu den Status eines "Weltblattes" hatte?

Drittes Leben als Kritiker

Gewiss, Krieg ist immer noch ein "technoromantisches Abenteuer", und die Aussage "wie ein König, mit Bomben beladen wie ein Gott" könnte von einem der gerade vor Gericht stehenden US-amerikanischen Mord-Soldaten stammen. Aber kann man die Flut der Afghanistan-YouTube-Videos so kommentieren, wie es Kraus mit den bellizistischen Schriften des Ersten Weltkrieges tat?

Gibt es überhaupt Parallelen zwischen der bei Kraus furchterregend komischen Kriegsberichterstatterin Alice Schalek und - beispielsweise - ihren Nachfolger/innen Antonia Rados und Friedrich Orter? Wenn nein, dann ist Kraus in seinem dritten Leben als Kritiker einer bestimmten Etappe der Publizistik historisiert und hat seinen Anspruch auf Überzeitlichkeit eingebüßt; wenn ja - die Folgen für den moralischen Befund unserer Gesellschaft sind schwer durchdenkbar.

Und umgekehrt: Wenn Moriz Benedikt der "Herr der Hyänen" und der "Antichrist" war - haben wir dann überhaupt noch Kriterien, um eine Figur wie Silvio Berlusconi zu erfassen? Da hat doch die Realität den apokalyptischen Gestus der Satire eingeholt - ein Punkt für die Hypothese der "Historisierung".

Karl Kraus über Schauspiel und Theater

"Dort wo man druckt, dort lügt man auch." Unsere "Letzten Tage der Menschheit" haben wohl eine eigene Qualität. Rund um die Wirtschaftskrise, die Umweltproblematik, Bürgerkriege, Hungersnöte und die Katastrophe von Fukushima haben sich andere "Sprachspiele" entwickelt, als die, aus denen Kraus den "Untergang der Welt durch schwarze Magie" herauslas.

Es gibt - überraschend, weil es ja eine von Kraus nicht vorhergesehene Vielfalt von Medien gibt - heute mehr Gedrucktes als zu Kraus' Zeiten, das aber in sich eine ebenso überraschende Vielfalt hat.

Karl Kraus über Nationalismus, Chauvinismus und Rassenhass

Die Art, wie sich für den in der Tradition der romantischen Sprachauffassung stehenden Kraus die Begegnung von Sprache und Gedanken abspielt, war schon zu seiner Zeit schwer nachvollziehbar. Heute haben die beiden Verbündeten Avantgarde und Populärkultur unter den Bedingungen von Masseneinwanderung und Globalisierung ein neues, äußerst funktionalistisches Sprachdenken geschaffen.

Karl Kraus über sich und sein Publikum

Der Kraus'sche Sprachpurismus würde heute mit Selbstverständnissen kollidieren: dass eine Herabsetzung des nationalen sprachlichen Standards der interkulturellen Kommunikation förderlich ist; und dass man sein - sozial oder ethnisch begründetes - Sprachverhalten niemandem zum Vorwurf machen darf. Die Anklagen, die Kraus gegen das "Mauscheln" der jüdischen Presse erhob, wären heute - gegen den "Kanakensprech" gewandt - politisch unkorrekt.

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