Auf den Spuren von Joseph Roth
Mit Sprache unterwegs
Im Juli und August 2011 präsentierte Ö1 zeitgenössische literarische Reportagen. Jeden Dienstagabend ab 21.00 Uhr setzte sich Ö1 mit einem Genre auseinander, das dereinst als Königsdisziplin im Spannungsfeld zwischen Literatur und Journalismus galt: die literarische Reportage.
8. April 2017, 21:58
"Objektivität ist Schweinerei"
Die großen Vorbilder, allen voran Joseph Roth, Egon Erwin Kisch und Ryszard Kapuściński, haben heute ihren festen Platz im Olymp der Literaturgeschichte. Doch mitunter scheint es so, als ob wegen der schieren Größe und Unerreichbarkeit dieser und anderer Herren (zumeist waren es Herren, sorry) die zeitgenössische Autor/innenschaft gar keine Anstrengungen mehr unternimmt, das Genre der literarischen Reportage zu reaktivieren.
Freilich: Eine Menge äußerer Umstände spricht im Zeitalter der Dominanz von Bildmedien und des Internets gegen diese Form. Seit uns die Welt ins Haus kommt, müssen wir nicht mehr in die Welt. Zudem widersetzt sich die von Joseph Roth und anderen gepflegte Form dem allgegenwärtigen Diktat der Kürze. Literarische Reportagen sind nicht in einer Zeitungsspalte unterzubringen.
Sie sind aufwendig, mit Reisekosten verbunden, im Regelfall anspruchsvoll und, in einem juristisch-journalistischen Sinn, auch nicht immer verlässlich. "Objektivität ist Schweinerei", sagte Joseph Roth und machte damit unmissverständlich klar, dass sich das beobachtende und beschreibende Subjekt ohnehin nicht vom Gegenstand seiner Beobachtungen trennen lässt.
"Was ist eine literarische Reportage?"
Das fragt einer, der es wissen muss. Ist sie "Abbildung oder Erzählung? Bezeugung oder Gedankenflug? Information oder Poesie? Oder vielleicht alles zugleich, und daher etwas anderes zudem?" Der da fragt, darf getrost in einem Atemzug mit den Großen der literarischen Reportage genannt werden. Ilija Trojanow, Schriftsteller, Reisender und Weltensammler, ist das Genre in Theorie und Praxis mehr als geläufig.
Der seit einiger Zeit in Wien lebende Deutsche bulgarischer Herkunft mit biografischen Stationen in Nairobi, Mumbai und Kapstadt hat das Vorwort geschrieben zu einem Band, der vergangenen Herbst in der edition atelier erschienen ist: mit Sprache unterwegs - literarische Reportagen, herausgegeben von Manfred Müller und Kurt Neumann.
Im Nachwort schildern die Herausgeber Idee und Geschichte des dem Buch zugrunde liegenden Unternehmens: "Das Projekt ist aus der Zusammenarbeit von elf literarischen Institutionen entstanden, die seit Jahren gemeinsam Veranstaltungen organisieren.
Der vorliegende Band (…) versammelt Ergebnisse von Reisen, die im Zeitraum vom Sommer 2009 bis zum Frühjahr 2010 von österreichischen Autorinnen und Autoren unternommen wurden. Der Auftrag, eine literarische Reportage zu schreiben, war einerseits als Hommage an Joseph Roth gedacht, den Meister dieser zwischen Feuilleton und Prosa angesiedelten Form, andererseits dem Versuch geschuldet, dieses in den letzten Jahren ein wenig aus dem Blickwinkel geratene literarische Genre per se zu thematisieren."
Neun mal klug unterwegs
Neun österreichische Autor/innen haben sich also auf den Weg gemacht, um in nahen und fernen Weltgegenden Wirklichkeitsausschnitte ihrer Wahl zu erkunden. Reisen, sagt Ilija Trojanow, ist die Voraussetzung, um "Kenntnis" zu geben "von der Welt. (…) Ohne Fremde keine Reportage".
Nach Trojanow scheitert die literarische Reportage heute auch weniger "an mangelnden poetischen Mitteln" als vielmehr "an der fehlenden Bereitschaft, wirklich auf Reisen zu gehen" und dabei "das schwere Gepäck eigener Vorurteile und Erwartungen im Vertrauten zurückzulassen".
Die auf der Basis von eingereichten Konzepten ausgewählten Autor/innen waren in Frankreich und Polen unterwegs, in Irland, Grönland, Rumänien und in der Ukraine, sie haben in Chicago recherchiert, in New York und Sri Lanka, haben Auschwitz besucht und die psychiatrische Klinik Am Steinhof. "Beim Reisen", schreibt die in Südkorea geborene österreichische Autorin Anna Kim, "bewege ich mich stets an Grenzen: Ich nutze die Möglichkeiten voll aus, die Fremdheit bietet, genieße diese Rolle, die für mich mehr als nur eine Rolle ist - es ist ein Existenzkonzept, meine natürliche Umgebung, die Fremde ist der Ort, an den ich hingehöre."