Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi
Der Hase mit den Bernsteinaugen
Odessa - Wien - Paris - Tokio. Der Engländer Edmund de Waal reist durch die Weltgeschichte, um das Schicksal seiner Vorfahren zu erkunden, der Familie Ephrussi, einst einer der reichsten und mächtigsten Clans von jüdischen Geschäftsleuten in Europa.
8. April 2017, 21:58
Kunst zu sammeln war die Leidenschaft vieler Familienmitglieder, und so rollt Edmund de Waal in seinem Buch "Der Hase mit den Bernsteinaugen" die Geschichte der Ephrussi anhand eines Erbstücks auf: einer Sammlung von Netsuke, kleinen, japanischen Schnitzereien, die die Umbrüche des 20. Jahrhunderts und die Schrecken von zwei Weltkriegen im Besitz der Familie überdauern.
Verzierte Knöpfe
Ein Kimono hat keine Taschen. Japaner trugen darum früher einen Beutel mit sich, den sie mit einer Schnur an den Gürtel banden und mit einem Knebelknopf befestigten - dem Netsuke, einer kunstvollen Schnitzerei aus Holz oder Elfenbein in allen erdenklichen Formen und Farben.
Ihrer eigentlichen Funktion beraubt, werden diese Schnitzereien im Europa des späten 19. Jahrhunderts zum letzten Schrei. Der Japonismus schwappt durch die Kunstwelt, und in Paris erwirbt ein gewisser Charles Ephrussi eine Sammlung von 264 Netsuke. Hier, beim Hôtel Ephrussi in der Rue de Monceau, beginnt die Reise von Edmund de Waal auf den Spuren dieser Sammlung und seiner eigenen Vorfahren.
Zitat
Die Familie Ephrussi ging nach dem Rothschild-Muster vor. So wie die Rothschilds ihre Söhne und Töchter zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Frankfurt ausgesandt hatten, um die europäischen Hauptstädte zu kolonisieren, so hatte der Abraham meiner Familie, Charles Joachim Ephrussi, in den 1850er Jahren diese Expansion von Odessa aus in die Wege geleitet.
Als einflussreiche Geschäftsleute und begeisterte Kunstsammler machen sich die Ephrussi in ganz Europa einen Namen und sind schnell auf Augenhöhe mit ihren Vorbildern, den Rothschilds.
Spielzeug für die Kinder
Neben Paris ist eine Dépendance der Familie in Wien ansässig. Dorthin ziehen die Netsuke im März 1899, als Hochzeitsgeschenk für Viktor und Emmy Ephrussi, die Urgroßeltern des Autors. Sie finden einen neuen Platz im Palais Ephrussi an der Ringstraße, direkt beim Schottentor.
Zitat
Das Palais steht gegenüber dem Hauptgebäude der Universität Wien, wo eben drei Protestkampagnen - gegen die amerikanische Nahostpolitik, gegen Kohlendioxidemissionen, gegen irgendwelche Gebühren - einander an Krach und Unterschriften zu übertreffen suchen. Da kann man sich einfach nicht aufhalten.
Ein Hase mit Bernsteinaugen, Dutzende Ratten aus Elfenbein, Priester, Samurai, Handwerker; eine nackte Frau und ein Oktopus; ein liegender Hirsch, der sich mit dem Hinterlauf hinter dem Ohr kratzt. Die Sammlung von Figuren steht in einer Vitrine im Ankleidezimmer des Palais Ephrussi, zwischen goldenen Uhren und Ölschinken von Makart. Die Kinder nehmen sie zum Spielen heraus, während ihre Mutter sich schick macht - im Wien der Belle Époque kann das schnell einige Stunden in Anspruch nehmen.
Antisemitismus wird salonfähig
In dieser Zeit wandern Hunderttausende vertriebene Juden aus Osteuropa ein, das gesellschaftliche Klima wird rauer. Ist De Waal in Paris in den Archiven und Bibliotheken noch auf versteckte Gehässigkeiten getroffen, künden Zeitungsberichte und Briefe in Wien bald von unverhohlenem Hass.
Wegen der Palais des jüdischen Geldadels wurde die Ringstraße damals Zionstraße genannt. Heute ist der Ring an der Stelle des Palais Ephrussi nach Karl Lueger benannt, dem damaligen Bürgermeister. Er machte den Antisemitismus in Wien salonfähig.
Zitat
1899, in dem Jahr, in dem die Netsuke nach Wien kamen, konnte ein Abgeordneter im Reichsrat in einer Rede Schussprämien für die Tötung von Juden fordern. In Wien reagierten die assimilierten Juden auf die ungeheuerlichsten Aussprüche mit der Meinung, es sei wahrscheinlich besser, sich nicht zu sehr darüber aufzuregen.
Doch Kaiser Franz Joseph verweist die Antisemiten in ihre Schranken, und so halten die Ephrussi ihm die Treue und übernehmen die österreichische Staatsbürgerschaft. So kommt es, dass die Familie im Ersten Weltkrieg zwischen den Fronten steht. Noch im Jahr 1917 kauft Viktor Ephrussi Kriegsanleihen, die Kapitulation Österreichs beschert ihm herbe Verluste.
Flucht vor den Nationalsozialisten
Nach dem Krieg sind die Kleider der Damen nicht mehr so pompös, und auch weil die Kinder immer älter werden, bleiben die Netsuke ungestört in ihrer Vitrine. Der Autor lässt die Zwischenkriegszeit im Eiltempo verfliegen, das Auf und Ab der Weltwirtschaft, die politischen Wirren in Österreich und den allmählichen Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland.
Immer mehr von ihren Bekannten wandern aus oder bringen wenigstens ihr Kapital ins Ausland. Die Ephrussi sind immer noch überzeugte Österreicher. Sie unterstützen die Propaganda des Austrofaschisten Kurt Schuschnigg finanziell. Mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 macht sie das zu Staatsfeinden, nur wenige Tage später dringt der Mob ins Palais Ephrussi. Es wird enteignet, Viktor Ephrussi muss die Bank einem christlichen Geschäftspartner für einen Pappenstiel verkaufen.
Gedemütigt, verarmt und staatenlos fliehen die Ephrussi in alle Himmelsrichtungen. Der Familienschatz - verloren. Und die einzige Person, die von den Netsuke weiß, ist das ehemalige Hausmädchen. Als die Gestapo das Gebäude räumt, versteckt sie die Figuren in ihrer Matratze.
Zitat
Sie waren so beschäftigt mit den großen Sachen - die Bilder des Barons und das Goldservice aus dem Safe und die Kabinettschränke aus dem Wohnzimmer und die Statuen und der Schmuck eurer Mutter. Und die alten Bücher des Barons, die er so geliebt hat. Die kleinen Figuren sind ihnen nicht abgegangen. Also hab ich sie einfach genommen.
Zurück in Tokio
Niemand von der Familie zieht nach Wien zurück. Der Großonkel von Edmund De Waal tritt in die Fußstapfen seiner Vorfahren, wird Bankier und nimmt die Figuren in seine neue Heimat Tokio mit. Dorthin, wo sie vor über hundert Jahren entstanden sind.
Zitat
Nun, wieder daheim in Japan, sind die Netsuke eine Erinnerung an Gespräche mit den Großeltern über Kalligraphie, über Poesie oder den shamisen. Für Iggies japanische Gäste gehören sie zu einer versunkenen Welt, die durch die Düsternis der Nachkriegszeit noch trüber wirkt. Schaut an, scheinen die Netsuke vorwurfsvoll zu sagen, welchen Reichtum an Zeit es gegeben hat.
Schließlich landen sie in den Händen von Edmund De Waal, den sie zum Schreiben dieses außergewöhnlichen Buches inspiriert haben. Es zeigt, wie die großen Dinge mit den ganz kleinen zusammenhängen. Anhand der Geschichte dieser Schnitzereien zeichnet er das Schicksal seiner Familie nach, und anhand dessen die Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit all seinen Umbrüchen und Sündenfällen. Und trotz Verkehrs und Protestkampagnen lässt es vielleicht den einen oder anderen Passanten am Schottentor verweilen, um sich dieses riesige Haus anzusehen, an dem die meisten Wiener schon einmal vorbei gegangen sind, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Text: Raffael Fritz
mehr dazu in
tv.ORF.at - Kulturmontag
tvthek.ORF.at - Der Hase mit den Bernsteinaugen
service
Edmund De Waal, "Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi", aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Hilzensauer, Paul Zsolnay Verlag