Warum wir uns oft anders verhalten als wir wollen
Ich denke, also spinn ich
"Wir Menschen sind so: manipulierbar bis in die Haarspitzen, vielfach ferngesteuert oder schon ganz auf Autopilot. Zum Beispiel, wenn wir einfach mitgähnen, sobald wir einen Kollegen dabei beobachten." In dem Buch "Ich denke, also spinn ich" stellen die Autoren Jochen Mai und Daniel Rettig die Frage, warum wir uns im Alltag so oft anders verhalten als wir wollen.
8. April 2017, 21:58
Warum wir so handeln, wie wir handeln, was unser Handeln beeinflusst und ob wir überhaupt frei handeln - nicht philosophisch, sondern praktisch - fragen Mai und Rettig in "Ich denke, also spinn ich" nach Alltagsphänomenen: Wer hat sich nicht schon einmal darüber geärgert, dass Schnupfen und Virus den Körper immer am Wochenende oder in den Ferien befallen? Die Autoren nennen es den Gummiband-Effekt, denn schlagartige Ruhe nach längerer Überlastung ist kein Balsam für das Immunsystem - im Gegenteil.
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Das liegt vor allem am Hormon Cortisol. Solange wir Stress haben, ein Projekt abschließen, eine Präsentation halten oder eine Prüfung bestehen müssen, schüttet es unser Körper unentwegt aus. Das stärkt die Abwehrkräfte und wir halten wacker durch. Der Hormoncocktail laugt uns aus, schwächt auf Dauer das Immunsystem und lässt es beim ersten Anzeichen einer Entspannungsphase kollabieren.
Lachen ist - nicht immer - die beste Medizin
Dass Lachen gesund ist, wird nicht nur in vielen fröhlichen Werbeslogans oder von der Medizin propagiert - ja, Lachen ist gesund, senkt die Ausschüttung von Stresshormonen und lenkt von Schmerzen ab. Aber – und da zitieren die Autoren Paracelsus: "Die Dosis macht das Gift". Für ein Glücksgefühl reicht ein 90-sekündiges Lächeln. Mehr könne Schaden anrichten, meint ein japanischer Psychologe, der vor dem sogenannten Lächelmasken-Syndrom warnt.
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Dabei handelt es sich um ein krampfhaftes Permagrinsen - wie man es zum Beispiel von Stewardessen oder Schlagersängern kennt. Und das kann zu Depressionen führen.
"Ich denke, also spinn ich" gibt auch Rat in Liebesdingen: Der sogenannte Coolidge-Effekt beschreibt, warum Männer fremdgehen, und besagt, dass Männer größere sexuelle Lust entwickeln, wenn sie ab und zu ihre Partnerin wechseln. Schuld daran sei das Hormon Dopamin.
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Von wegen! So einfach ist es auch nicht. Der Coolidge-Effekt raubt niemandem den Verstand. Er liefert ein biochemisches Motiv für außereheliche Techtelmechtel, aber das macht die Seitensprünge noch nicht zum Affekt, geschweige denn besser.
Gleich und Gleich gesellt sich gern
Der Chamäleon-Effekt beschreibt, warum wir Menschen mögen, die uns imitieren. Verantwortlich für die synchrone Mimik und Gestik sind die Spiegelneuronen im Gehirn.
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Wer uns imitiert, den mögen wir - und glauben ihm zuweilen mehr, als wir sollten. Verliebte Paare sind zum Beispiel ganz typische Vertreter, ebenso befreundete Kollegen in der Kantine. Je sympathischer die sich sind, desto schneller synchronisieren sich Worte und Körpersprache.
Sieben auf einen Streich
Mai und Rettig schreiben humorvoll und in sehr saloppem Ton, sie zitieren viele psychologische Studien und Experimente. Auch das Sieben-Phänomen ist Thema: Laut dem amerikanischen Psychologen George Miller kann sich der Mensch höchstens sieben Informationen - plus/minus zwei - gleichzeitig in seinem Kurzzeitgedächtnis merken. Die Autoren geben dazu ein paar berufliche Tipps.
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Wer im Laufe eines Tages mehr als sieben Aufgaben und Ziele gleichzeitig verfolgt, dürfte sich ziemlich wahrscheinlich verzetteln und den Überblick verlieren. Und: Versuchen Sie bitte auch nicht, mehr als sieben Kollegen zu einem Meeting einzuladen.
In den Arbeitsalltag passt auch der unangenehme Zeigarnik-Effekt: Unerledigtes, Aufgeschobenes und Liegengebliebenes bleibt im Gedächtnis haften. To-Do-Listen helfen zwar, auch wenn wir uns damit eigentlich nur selbst manipulieren.
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Weil wir wollen, dass die Punkte erledigt werden, schreiben wir sie auf eine Liste. Das erzeugt Spannung und Druck beim Abhaken, gleichzeitig aber auch Stress, wenn sich die Häkchen darauf nur langsam mehren. Wenn wir eine Herausforderung vor uns haben, bauen wir geistige Spannung auf - und diese löst sich erst dann, wenn wir die Aufgabe gemeistert haben.
Luxus macht süchtig
Rettig und Mai liefern auch eine Erklärung, warum wir Luxusprodukten verfallen, der französische Philosoph Denis Diderot formulierte es als eine "Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben": Schuld am Konsumrausch ist die Kettenreaktion. Wer A bestellt, muss auch B kaufen. Von Designerstücken, Autos bis hin zu Technikspielereien. Es besteht Suchtgefahr, warnt eine Studie, die an der Stanford Universität durchgeführt wurde.
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Wer ein iPhone in die Finger bekommt, begreift es schon bald als Teil seiner Identität. So gaben drei Viertel der Befragten zu, das iPhone schon einmal mit ins Bett genommen zu haben und damit eingeschlafen zu sein. Rund jeder Vierte meinte, das Gerät fühle sich an wie eine Erweiterung des Gehirns, und fast jeder Zehnte bekannte, das Telefon gelegentlich zu streicheln.
Die Autoren beschreiben viele psychologische Phänomene, berufen sich allerdings oft nur auf eine Theorie, kritische Gegenstimmen fehlen also. Jochen Mai und Daniel Rettig werten nicht, sie geben Tipps und kündigen an: Wer das Buch liest, wird sich selbst und seine Mitmenschen besser verstehen. Eine amüsante Sommerlektüre, auf jeden Fall mit dem einen oder anderen Aha-Effekt.
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Jochen Mai, Daniel Rettig, "Ich denke, also spinn ich. Warum wir uns oft anders verhalten als wir wollen", dtv
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