Über die Entwicklung des Netzes anderswo

The Internet of Elsewhere

Estland, Südkorea, Senegal und Iran - das sind die vier Länder, die Cyrus Farivar in seinem Buch "The Internet of Elsewhere" vorstellt. Diese Länder würden jeweils für eine spezifische Geschichte, Struktur, Kultur und Politik stehen und die markanten Eckpunkte der Entwicklung des Internets darstellen, so Cyrus Farivar.

Das Internet ist in den USA entstanden und viele Forschungseinrichtungen und Firmen, die das Internet und das Web weiterentwickeln, sind im Silicon Valley oder in Boston in den USA angesiedelt. Für jemanden wie den Technologie-Journalisten Cyrus Farivar, der in Kalifornien aufgewachsen ist, könnte also der Eindruck entstehen, dass die Vereinigten Staaten das am besten vernetzte und in Sachen Internet innovativste Land der Welt sind.

Als er eines Tages in einer Zeitung las, dass Estland den Zugang zum Internet zu einem Menschenrecht erklärt hatte, begann er sich dafür zu interessieren, wie das Internet anderswo aussieht. Daraus ist sein kürzlich erschienenes Buch "The Internet of Elsewhere. The Emergent Effects of a Wired World" entstanden, in dem er exemplarisch vier sehr unterschiedliche Länder beschreibt.

Estland: Internet überall

Estland wurde im 20. Jahrhundert von Russland und den Sowjets und von Nazi-Deutschland okkupiert und drangsaliert. Als Estland 1991 unabhängig wurde, lag die Wirtschaft komplett darnieder, doch der Widerstandsgeist der Bevölkerung war groß. Man wollte so rasch als möglich den Anschluss an andere europäische Länder und die industrialisierte Welt schaffen.

Der Vorteil war, dass die Esten seit Jahrhunderten stark auf Bildung gesetzt hatten. Den Ausschlag für die Entwicklung des Landes zum Internet-Vorreiter gaben ein paar neugierige Jungunternehmer. Sie erkannten, dass freier Internet-Zugang für alle die Entwicklung fördern kann.

Heute gibt es in Estland überall gratis WLAN. Skype, die Software für gratis Internettelefonie und die Tauschbörse Kazaa wurden in Estland entwickelt, im März 2007 wurden die weltweit ersten Online-Wahlen in Estland abgehalten und jeder Bürger kann das Bezahlen von Steuern oder Parkgebüren und vieles mehr mit Hilfe seines elektronischen Ausweises über das Internet erledigen. Die totale Vernetzung hat aber auch Nachteile: Im Frühjahr 2007 ging Estland zwei Wochen lang aufgrund von Cyberattacken in die Knie. Es wird vermutet, dass sie von Russland ausgegangen waren, bewiesen werden konnte das aber nicht.

Südkorea: Internet für alle

Depression gelitten hat und sich danach mithilfe neuer Technologien an die Spitze des Internetzeitalters gepusht hat, ist Südkorea. Eine wichtige Figur dort war und ist Chon Kilnam. Er wurde 1943 als Koreaner in Japan geboren, studierte Computerwissenschaften in Japan und Kalifornien und ging 1979 nach Korea, um beim Aufbau des Landes zu helfen. Er spornte seine Studenten zur Entwicklung des Internets in Südkorea an und war direkt oder indirekt an zahlreichen IT-Entwicklungen beteiligt. Heute ist Südkorea das Land mit der weitesten Verbreitung des Internets weltweit - 95 Prozent der Bevölkerung.

Doch auch in Südkorea hat die totale Vernetzung ihre Schattenseiten: bis zu 30 Prozent der jungen Südkoreaner sollen Internet-süchtig sein und exzessive Internetnutzung hat sogar zu Todesfällen geführt. Anfang der 2000er Jahre sind mehrere Männer an Erschöpfung gestorben, nachdem sie stunden- und tagelang am Computer gespielt hatten, und ein Paar soll über der Versorgung ihrer virtuellen Kinder im Internetcafé das eigene Kind vergessen haben, das daheim verhungert ist. Ein junges Mädchen, das sein Hündchen in die U-Bahn kacken ließ und sich weigerte, den Dreck wegzuputzen, wurde im Web massiv gemobbt und im Mai 2008 führten absurde Gerüchte über die Einfuhr von BSE-verseuchtem Rindfleisch aus den USA zu Massenprotesten auf der Straße.

Iran: Kampf um das und mit dem Netz

Im Iran war das Internet nicht Auslöser, sondern Werkzeug für die Organisierung von Protesten gegen die Wahlen 2009. Der Iran war dem Internet gegenüber skeptisch, wie zuvor auch dem Telefon oder dem Fax. In gewisser Weise wurde das neue Medium aber auch gefördert und von den gut ausgebildeten jungen Menschen schnell angenommen. 32 Prozent der Bevölkerung nutzen es, die Verbreitung von Smartphones ist groß und das Web bot trotz Zensur und Überwachung die Möglichkeit, gesellschaftliche Konventionen zu überschreiten.

Der Iran wurde 2003 aber auch das erste Land, das einen Blogger verhaftete. Sina Motalabi war mehrere Monate im Gefängnis und lebt jetzt im Exil in Großbritannien, wo er für die BBC arbeitet. Die Regierung nützt ebenfalls das Internet - im Kampf gegen die Kritiker. So sollen die Bürgerwehr der Basij als Blogger eingesetzt und über Twitter und Facebook falsche Aufrufe zu Protesten verbreitet worden sein. Präsident Mahmoud Ahmadinejad und andere Führungsfiguren bloggen und twittern und Videos und Fotos von Protesten werden genützt, um Regimegegner zu identifizieren.

Senegal: Weniger als sein könnte

Der Senegal ist nicht das Land mit dem geringsten Anteil an Internetzugang, sondern vielleicht sogar das beste unter den schlecht vernetzten Ländern. Etwa 12 Prozent der Bevölkerung im Senegal haben Internetzugang. Obwohl der Senegal ein relativ stabiles politisches und wirtschaftliches System hat und die Alphabetisierung und die Bandbreite vergleichsweise hoch sind, haben dennoch relativ wenige Menschen Zugang zum Internet. Und das, obwohl der senegalesische Präsident Abdoulaye Wade sich seit vielen Jahren für das Internet einsetzt und beim World Summit on The Information Society in Genf 2003 und Tunis 2005 die Gründung eines Digital Solidarity Fund für Afrika forderte. Senegal habe jedoch das Problem, dass die Liberalisierung des Telekom-Marktes aufgrund von Korruption nicht recht gelungen sei, und dass 60 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben können, sagt Cyrus Farivar. Wer nicht lesen kann, kann das Internet aber nur schwer nützen.

Service

Cyrus Farivar, "The Internet of Elsewhere. The emergent Effects of a Wired World", Rutgers University Press, 2011

Übersicht