"Willkürlich und überzogen"

Kindeswegnahmen: Kritik an Jugendämtern

Es gibt immer lautere Vorwürfe, dass die Jugendwohlfahrt bei vielen Kindeswegnahmen willkürlich oder überzogen agiere. Eine junge Mutter bekommt jetzt nach fast drei Jahren der Trennung ihre Tochter zurück - und das Jugendamt steht massiv in der Kritik.

Morgenjournal, 16.12.2011

"Gefahr in Verzug"

Fast drei Jahre lang durften die junge Mutter und ihre kleine Tochter einander kaum sehen. Zuerst gab es ein wochenlanges Besuchsverbot, zuletzt Besuche nur alle zwei Wochen für vier Stunden. Die Mutter musste für Besuche zahlen und stand dabei unter Beobachtung, wie in solchen Fällen üblich. Das Kind durfte auch nicht "Mama" zur Mutter sagen, kritisiert eine Gerichtsgutachterin das Jugendamt. Dieses hatte die Kindeswegnahme und Unterbringung bei einer Pflegefamilie mit "Gefahr in Verzug" begründet. Dabei sei etwa von Gewalt nie die Rede gewesen, sagt Stephan Podiwinsky, Anwalt der Mutter: "Tatsache ist, dass das Jugendamt bis heute nicht in der Lage war, zu erklären, worin die Gefahr in Verzug bestanden hätte."

Im Gerichtsgutachten der Psychologin Andrea Hochfilzer-Winter wird sogar bezweifelt, dass das Kindeswohl jemals gefährdet war. Die Gutachterin attestiert der Mutter Erziehungskompetenz und ein hohes Einfühlungsvermögen.

Schockierende Erlebnisse

Die Vorgeschichte: Weil die bei ihren Eltern lebende Mutter bei der Geburt erst 17 war, musste sie immer wieder zum Jugendamt. Dieses kritisierte Schmutz an Handgelenken und Beinen des Kindes, vermeintlich fehlende Impfungen, zu wenig Interaktion zwischen Mutter und Kind und eine angeblich verzögerte Sprachentwicklung. Dabei habe vier Monate vor der Kindesabnahme eine Logopädin eine unauffällige Sprachentwicklung attestiert, die damals Eineinhalbjährige habe Mama und Papa gesagt, schreibt die Gerichtsgutachterin. Die Mutter fühlte sich damals schikaniert und lehnte sich gegen Jugendamts-Mitarbeiterinnen auf. Es folgte die Kindeswegnahme: "Ich war schockiert, ich hab mein Leben mehr oder weniger um das Kind herum aufgebaut und dieser Mittelpunkt war weg - mein Kind ist weg."

Urteil: Kind darf zur Mutter

Trotz des Gerichtsgutachtens hat sich das Jugendamt bis zuletzt eher dafür ausgesprochen, dass das Mädchen bei den Pflegeeltern in Graz bleibt, weil eine Trennung für Kind und Pflegeeltern zu belastend wäre. Doch nach jahrelangem Rechtsstreit und einer Gerichtsverhandlung diese Woche kommt die Vierjährige nun zurück zur Mutter nach Wien, bestätigt Jugendamtssprecherin Herta Staffa. Fehler beim Jugendamt sieht sie nicht: Die Entscheidungen seien damals mit bestem Wissen und Gewissen getroffen worden und würden sich heute, "nachdem Menschen dazulernen und sich entwickeln, anders darstellen." Die Perspektive, dass es Mutter und Kind gemeinsam schaffen, sei jetzt wesentlich größer als vor einigen Jahren. Im Gerichtsgutachten hingegen heißt es: "Es kann festgestellt werden, dass das Kind die Mutter als Bindungsfigur erlebt und immer erlebt hat."

Entwicklungsdefizit durch Trennung

Die heute 21-jährige Mutter sagt, sie wolle alles tun, um eine zweite Traumatisierung ihrer Tochter zu verhindern: "Ich möchte, dass sie den Kontakt zu den Pflegeeltern nicht verliert. Sie soll diesen Trennungsschmerz nicht noch einmal so erleben müssen, wie er damals war."

Übrigens: Laut dem Gerichtsgutachten dürfte ein von einer Krisen-Pflegemutter gesehenes emotionales Entwicklungsdefizit des Kindes nicht die Folge von Vernachlässigung gewesen sein - sondern die Folge der Trennung von Mutter und Kind durch das Jugendamt.