Vom Sinn und Unsinn der Literaturkritik

Die Rezensenten

Niemand kann so gut an einem schlechten Buch leiden wie ein Literaturkritiker. Wie jene, die beruflich lesen. Die das erzählerische Können, die Komposition, die Stimmigkeit, und das Potenzial eines Buches einschätzen und ausloten. Die rügen und lästern, loben und preisen, die in einem Roman das "Grundgeräusch unserer Gegenwart" entdecken.

Die Reflexion auf das, was gute Literatur ist oder sein soll, ist so alt wie das Genre selber. Noch gibt es sie jedenfalls, die kritischen Plagegeister im Feuilleton, in den Büchermagazinen des Radios, in den Literaturbeilagen einiger weniger großer Zeitungen. Die ausführlich, fast in Essay-Länge schreibenden Erstbegutachter literarischer Neuerscheinungen.

Die Nachwelt vergisst oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors. Literaturkritik ist ein Geschäft mit großem Kränkungs- und Beleidigungspotenzial.

Der "Literaturpapst"

Marcel Reich-Ranicky. Ein Literaturkritiker, den jeder Tankwart kennt, wie er, nicht ohne Stolz, zu bemerken pflegte. Einer der durch seine Wortmächtigkeit und Fernsehpräsenz über Jahre der Gottseibeiuns vieler Autoren war. 1976 stand er im Mittelpunkt der vielleicht schärfsten Auseinandersetzung der Literaturgeschichte. Als er in einer Besprechung von Martin Walsers Buch "Jenseits der Liebe" den Satz schrieb: "Es lohnt sich nicht, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen"

Ein Verriss, den Walser dem Kritiker nie verzieh. Noch 25 Jahre später persifliert Walser Reich-Ranicki bis zur Kenntlichkeit in seinem Roman "Tod eines Kritikers" und löst damit, wegen angeblich antisemitischer Untertöne, einen Skandal aus. Versöhnt haben sich die beiden Streithähne bis heute nicht.

Ambivalentes Verhältnis

Immer wieder, so Hubert Winkels, hätte sich im Verlauf der Literaturgeschichte das Verhältnis zwischen Schriftstellern und ihren Kritikern verändert. So sah sich Wilhelm Schlegel, der Goethes "Wilhelm Meister" rezensierte, durchaus auf Augenhöhe mit dem Autor. Der Theaterkritiker Alfred Kerr später ging gar von einer Überlegenheit des Kritikers aus. Und in der Postmoderne schließlich findet ein Ineinander-gleiten der Gegensätze statt: Wenn es keine Originalschöpfung mehr gibt und alles nur ein Spiel mit Literatur oder literarischen Vorlagen ist, dann ist auch der Kritiker ein genuiner Mitspieler.

Jeder ein Kritiker

Längst ist im Internet ein Paralleluniversum entstanden. Neben hochkarätigen Literaturblogs, deren Zahl zunimmt, tritt ein neuer Phänotyp des Literaturkritikers auf: der des Dilettanten. Des Hobbykritikers. Es hat sich ein reges Internet-Rezensionswesen herausgebildet, das auf die Orientierungshilfe der professionellen Kritiker nicht mehr angewiesen ist. Amazon ist dafür nur das bekannteste Beispiel. Der Online-Händler verkauft Bücher, die Kunden rezensieren und Sterne verteilen.

Fast möchte man von einer Rezensier-Wut sprechen: Allen Unkenrufen vom Ende der Gutenberg-Galaxis zum Trotz ist das Bedürfnis, über Literatur zu kommunizieren, heute größer denn je. Das Internet ermöglicht dabei eine Demokratisierung der Kritik. Es gibt, so scheint es, ein beinahe grenzenloses Bedürfnis, seine private Leseerfahrung anderen mitzuteilen. Jeder ist ein Literaturkritiker. Ein Brei aus Halbwissen und Geschmacksurteilen. Hier spricht der Mann von der Straße, aus dem Bauch.

Gewiss ist, dass eine überdehnte, in ihrem Einfluss viel zu mächtige Literaturkritik, wie sie Marcel Reich-Ranicki nach 1945 verkörperte, zu einem Ende gekommen ist, meint Franz Schuh. Aber wirklich Sorgen brauche man sich keine machen, bis zu deren tatsächlichem Ende werde es wohl noch ein bisschen dauern.