Roman von Hannelore Valencak
Die Höhlen Noahs
Wie ist das möglich? Wie ist es denkbar, dass ein Roman von solcher Wucht und Qualität nach seinem Erscheinen Anfang der 1960er Jahre so sehr in Vergessenheit geraten konnte? Hannelore Valencaks Endzeit-Thriller erinnert tatsächlich in manchem an Marlen Haushofers Meisterwerk "Die Wand", wie die Verlags-Publicity auf dem Klappentext hinausposaunt.
8. April 2017, 21:58
Valencaks Thriller erschien allerdings zwei Jahre vor Haushofers Roman, 1961, wodurch sich allfällige Epigonen- oder Plagiatsverdächtigungen von selbst erledigen.
Grundlegende Menschheitsfragen
Natürlich ist manches in den "Höhlen Noahs" dem Zeitgeist der frühen 1960er Jahre verpflichtet, die atomare Vernichtung der Menschheit war damals, ein Jahr vor der Kubakrise, schließlich eine alles andere als unrealistische Option. Aber Hannelore Valencak, die gelernte Metallurgin, stellt in der postapokalyptischen Versuchsanordnung, die sie in ihrem Roman entwirft, einige grundlegende Menschheitsfragen zur Diskussion, Fragen, die auch heute noch zu fesseln vermögen, die Frage nach dem Ursprung der Gewalt beispielsweise.
Worum genau geht es in "Die Höhlen Noahs"? Die 1929 in Donawitz geborene Autorin erzählt die Geschichte von fünf Menschen, die, als letzte Repräsentanten des Menschengeschlechts, einen endzeitlichen Krieg überlebt haben. In den Schilderungen der Kriegsschrecknisse klingen unüberhörbare Reminiszenzen an die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs an.
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Sie hatten nicht einmal Zeit, Angst zu haben. Das Ende kam als ein großer, glühender Regen. Sie flohen erdwärts, weil der Himmel brannte, sie hockten im Keller ihres Hauses wie Tiere in der Fallgrube und hörten, fühlten, witterten den Tod.
Zuerst kamen das Entsetzen und die Gewalt. Die große Stadt, an deren Rand sie wohnten, war brüllend und steinewerfend aufgebrochen wie ein Vulkan. Sie war keine Stadt mehr, sondern ein Krater voll heißem Schmelzfluss, sie quoll über und überflutete das Land mit kochender Glut.
Illusionslose Nüchternheit
In den Schilderungen der Kriegsereignisse schlägt die Autorin einen lyrisch überhöhten, fast spätexpressionistischen Ton an. Das mag manch einer, in pathosallergenen Zeiten wie den unseren, als störend empfinden, im Großen und Ganzen, das muss betont werden, befleißigt sich Valencak in ihrem Roman aber einer wohltuend rauen, illusionslosen Nüchternheit, die auch heutigen Ansprüchen an Pathosfreiheit gerecht wird.
Auf 250 Seiten erzählt die Autorin vom Leben nach der Apokalypse. Fünf Menschen überleben die Katastrophe: eine junge Frau namens Martina mit ihrem Bruder Georg, ein alter Mann mit seiner Enkelin Luise und eine ältliche Magd. Wie paläolithische Höhlenbewohner richten sich die Überlebenden mit Schafen, Ziegen und anderem Getier in einem Talkessel im Hochgebirge ein. Das Leben ist hart, Not und Entbehrung kennzeichnen den Alltag der Gruppe. Der alte Mann führt ein herrisches Regiment. Er lehrt die Jüngeren archaische Kulte, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft gewährleisten und seine Führungsposition sichern sollen.
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Nein, diese Kinder sollten nichts wissen und auch nichts wissen wollen, sie sollten leben und sich der Notwendigkeit fügen. Ein Heer von Geistern war für sie genug. Mit Hilfe dieser Geisterschar hatte er sie mühelos gelenkt, hatte er sie niedergehalten und für alle Dienste bereit gemacht. Er lernte, wie leicht es war, Menschen durch Furcht gefügig zu machen, und war unversehens zu einer Art von Priester geworden, der mit den Dämonen in einem heimlichen Bündnis lebt.
Sich auflehnen gegen das Alte
Martina, die junge Frau, beginnt sich gegen das herrische und letztlich lebensfeindliche Regime des alten Mannes aufzulehnen. Vor allem stellt sie das Liebesverbot in Frage, das der Alte mit allen Mitteln durchsetzen möchte. Georg und Luise, die in die Pubertät kommenden Kinder, sollen nicht zueinander finden. So will der Alte verhindern, dass nochmals Kinder geboren werden und der Kreislauf von Leben und Sterben, Liebe und Hass, Gewalt und Gegengewalt aufs Neue in Gang gesetzt wird. Martina lehnt sich gegen den Alten auf und verliert den Kampf - vorläufig.
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Ein einziger Ausweg blieb ihr noch. Sie konnte in den Felsen hinaufsteigen und sich fallen lassen und dann nichts mehr fühlen. Es stand ihr frei, dieses halbe, misslungene Gestorbensein zu Ende zu bringen. Aber sie konnte diesen Weg nicht gehen. Ihr Körper wollte sich nicht fallen lassen, wollte nicht zu Stein werden. Er wollte atmen und Schmerzen leiden und nach Erlösung schreien. Sie befahl sich aufzustehen und war schwer wie Erde. Sie weinte auf: Ich mag nicht mehr leben, und wusste doch, dass sie nicht aufhören konnte, ihr Leben zu lieben. Inmitten von Hunger, Kälte und Einsamkeit würde sie sich daran festkrallen und es halten wollen.
Virtuos hält Hannelore Valencak die Spannung aufrecht in diesem außergewöhnlichen Roman. Die Konflikte in der Gruppe eskalieren, mit wechselnden Bündnissen und überraschenden Brüchen im Machtgefüge. Geht es nach dem alten Mann - er war vor der Katastrophe Lehrer - soll das "Experiment Menschheit" mit dem Erlöschen der Gruppe ein für allemal beendet sein. Prüfung nicht bestanden, setzen. Ein Schopenhauerianer in der Steinzeithöhle. Aber wie in der alltäglichen Realität um uns setzt sich das Leben auch bei Hannelore Valencak letztlich durch gegen misanthropische alte Männer, die das Lebendige gern versiegen sähen, da es auch in ihnen versiegt.
Akzeptanz der Realität
Es mag eine gewagte These sein, aber manchmal hat man den Eindruck, Hannelore Valencak habe parallel zur Arbeit an ihrem Roman Freuds ethnologische Schrift "Totem und Tabu" studiert. Bei Freud steht am Anfang aller Kultur der Mord der verstoßenen Söhne am Urvater, der ihnen den Zugang zu den Frauen untersagt. Valencak folgt auch dem Dreischritt, mit dem Freud die "weltanschauliche Entwicklung" der Menschheit charakterisiert hat.
Am Anfang stehen bei Freud wie bei Valencak animistische Kulte. Als die im Roman von Martina und den Pubertierenden hinterfragt werden, infiziert der Alte den pubertierenden Georg mit dem Keim einer entsagungsvollen Religion, das wäre das Pendant zu Christentum oder Islam. Im Roman heißt das: kein Sex, kein Genuss, keine Liebe zum Leben. Stattdessen predigt der Alte dem Jungen Weltverachtung und eigenartige Atemübungen, die den freien Fluss des Atems durch den Körper hemmen sollen.
Am Ende der Entwicklung steht bei Freud die Anerkennung des Realitätsprinzips: Der Mensch erkennt, dass es keine übersinnlichen Mächte gibt, die ihn beschützen oder bedrohen. Es gibt nur den Menschen mit seinen begrenzten Möglichkeiten und die Akzeptanz der Realität.
Man traut es sich kaum in aller Unverblümtheit zu sagen: In Hannelore Valencaks Roman werden die Urfragen der Menschheit verhandelt - die Frage nach der Religion, nach dem Verhältnis der Geschlechter, nach der Beziehung des Menschen zur Natur und die Frage nach der Gewalt - ist der Mensch prinzipiell friedfertig oder gewalttätig? Das alles ist erzählerisch eindrucksvoll aufgelöst, spannend und handlungssatt, in einem Roman, den man über kurz oder lang zu den Klassikern der österreichischen Literatur zählen wird.
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Hannelore Valencak, "Die Höhlen Noahs", Residenz Verlag
Residenz - Die Höhlen Noahs