Fragen an Unbekannte

Tischgespräche

"Wir wissen nicht, wer die Menschen sind, die uns umgeben. Im Unterschied zu früher anerkennen wir heute zwar, dass jeder Mensch einzigartig ist, doch wir müssen herausfinden, was sich in den Köpfen anderer abspielt", sagte der britische Historiker Theodore Zeldin in einem Interview 2008.

Was glauben wir zu wissen, über unsere Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, die Anderen, die Fremden? Und was wissen wir tatsächlich über sie? Wie weit geht unser Blick in einer individualisierten Gesellschaft, in der jede Gruppierung ihre eigene Szene hat, mit den ihr zugehörigen Orten, an denen sich die immer gleichen Menschen treffen? Und wann hören wir auf zu blicken und beginnen zu fragen? Das größte Abenteuer des 21. Jahrhunderts, so Theodore Zeldin, besteht in der Frage, "Wer bist du?".

2001 entwickelte er in Oxford das Konzept des "Conversation Dinner", zu Deutsch: Tischgespräch. Die Teilnehmer dieser Tischgespräche setzen sich mit einem völlig fremden Menschen an einen Tisch, essen zusammen und wählen aus einem von Theodore Zeldin ausgearbeiteten "Fragenmenü" jene Fragen aus, über die sie sprechen möchten, zum Beispiel: "Was haben Sie über die unterschiedlichen Formen von Liebe im Laufe ihres Lebens gelernt?", "Wann sind Sie am tolerantesten, wann am intolerantesten?", oder "Welche Teile Ihres Lebens waren Zeitverschwendung?"

Erstmals finden diese Tischgespräche auch im deutschsprachigen Raum statt, in Kooperation mit dem Wien Museum und dem Meidlinger Gasthaus "Goldmarie" im Rahmen der Initiative "Wien lebt - Vielfalt Stadt Einfalt". Eugene Quinn, freiberuflicher Autor und Reiseleiter, hat Theodore Zeldins "Conversation Dinner" bereits von Oxford nach London gebracht und dort veranstaltet. Gemeinsam mit der Journalistin Monika Kalcsics bringt er das Konzept nun nach Wien.

Wie Fremde im Zug

Die Idee der Tischgespräche führt zu einem unmittelbaren Kontakt mit den eigentlich Unbekannten, initiiert ein Gespräch, das tiefer gehen soll, als man es normalerweise gewohnt ist.

"Die Fragen sind für jedermann leicht zugänglich", meint Eugene Quinn, "aber trotzdem Fragen, die man im Normalfall keinem Fremden stellen würde. Das Konzept erinnert mich ein bisschen an Situationen im Zug oder im Flugzeug. Manchmal führt man mit fremden Menschen ein bemerkenswertes Gespräch, das einem nicht einmal mit Menschen gelingt, die man gut kennt. Wahrscheinlich deshalb, weil man insgeheim denkt: Diese Person treffe ich wahrscheinlich nie wieder, warum also nicht über ungewöhnliche Dinge sprechen?"

Widerwillig wie ein bockiges Kind hat sich die jetzige Veranstalterin der Wiener Tischgespräche Monika Kalcsics von den Organisatoren in einer Londoner Galerie an den Tisch ziehen lassen, zu ihrem Gesprächspartner, einem 65-jährigen in London lebenden Australier. Es wurde ein Gespräch, in dem die Zeit verflogen ist. Wie oft, fragt sich Monika Klacsics, nehmen wir uns Zeit für solche Gespräche, und wie oft lassen wir im Alltag die Gelegenheit dazu an uns vorbei ziehen.

"Das alles hat nichts mit Dating zu tun", stellt Eugene Quinn klar. "Es ist auch nicht intellektuelles Masturbieren. Du sollst ehrlich sein und nicht hochnäsig. Ich würde sagen, es ist ein Genuss, jemand Neuen zu treffen, und ich hoffe es wird ein unvergessliches Erlebnis für die Menschen, die daran teilnehmen. In einem Jahr werden sie sich an den Moment erinnern, an dem sie sich an den Tisch gesetzt haben."

Theodore Zeldin arbeitete zu 25 unterschiedlichen Themen einen Pool an möglichen Fragen für diese Gespräche aus. Die Beantwortung der Fragen soll unmittelbar aufzeigen, wie unterschiedlich Menschen über Liebe, Beziehungen, Eltern und Kinder nachdenken, oder über das eigene Lernen, die eigene Toleranz.

Potenzial urbaner Raum

"Conversation Dinner" haben bereits in Singapur und China stattgefunden und in der französischen Stadt Besancon. Ihre Einwohner wurden aufgerufen, daran teilzunehmen, sitzend an einer langen Tafel, die entlang der abgesperrten Hauptstraße aufgebaut wurde. Auch die nordenglischen Westyorkshire Police buchte für ihre Polizeikräfte ein internes "Conversation Dinner".

"Und - letztendlich - auch am Weltwirtschaftsforum in Davos, wo die Machthaber der Welt, Bill Gates und all die anderen, sich zusammengesetzt und es gespielt haben", erinnert sich Quinn. "Ich verwende gerne den Begriff 'spielen' dafür. Das Leben kann manchmal so ernst sein, so schwerwiegend. Die Tischgespräche sollen genüsslich sein, ein Spaß, ein Experiment."

Theodore Zeldin begrüßt es sehr, dass das Konzept nun in Wien verwirklicht wird, erzählen die beiden Organisatoren im Hinblick auf ein Treffen mit dem Historiker in Oxford. Wien eigne sich, so Zeldin, bestens dafür, bedenkt man die Geschichte der Kaffeehausliteratur und der öffentlichen Gesprächszirkel. Sowie, ergänzt Eugen Quinn, eine Geschichte der Selbstreflexion und verweist auf die Entstehung der Psychoanalyse. Ob das die Ausgangsbedingungen verbessert?

Man kann Wien nüchtern betrachtet auch als typische Großstadt klassifizieren, in der die Menschen zwar nahe aneinander, aber dafür weitgehend isoliert voneinander leben. In der Stadt ziehen die Massen selbstverständlich aneinander vorbei, unerkannt. Monika Kalcsics will den urbanen Raum nicht per se als Problemzone definieren, sie sieht ihn eher als Potenzial.

Eine Form der Integration

Die Tischgespräche als Ort der Integration, an dem einem leicht gemacht wird, was zwar theoretisch jederzeit möglich wäre, aber dennoch viel zu selten geschieht, so die Prämisse des britischen Historikers Theodore Zeldin. In einer globalisierten Gesellschaft wissen wir umeinander und stehen uns doch fremd und voller Berührungsängste gegenüber.

"Integration bezieht sich nicht nur auf unterschiedliche Nationalitäten, Integration ist weit komplexer", sagt Quinn. "Es bedeutet letztlich auch, mit einer älteren Person zusammen zu sitzen, wenn du jung bist; oder mit einer homosexuellen Person, wenn du heterosexuell bist, oder mit einem Menschen, der eine Behinderung hat."

60 Plätze haben die beiden Veranstalter der Wiener Tischgespräche Monika Kalcsics und Eugene Quinn per Voranmeldung zu vergeben. Je unterschiedlicher die Menschen, die kommen, desto besser. Sie wollen eine "verrückte, interessante Kombination von Menschen".

Was sagen die beiden Veranstalter denen, die im Gedanken, sich auf ein solches Experiment einzulassen, Angst, Scheu oder Skepsis verspüren?

"Mir kommt vor, Menschen haben oft Angst davor, mit anderen Menschen zu sprechen", so Quinn. "Weil sie vielleicht denken: Der andere könnte entweder langweilig sein, oder verrückt. Und es ist sogar möglich, dass beides zutrifft. Aber ich denke mir, dass man sich dennoch nicht langweilen wird. Jeder Mensch ist interessant für eine Stunde. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen."

Service

5,- Euro kostet das vegetarisches Menü der Tischgespräche am Samstag, dem 28.April. Vegetarische deshalb, um zu servieren, was alle essen können, egal welcher Herkunft oder Religion. 5,- Euro deshalb, damit auch jene kommen können, die sich sonst kein viergängiges Menü in einem Restaurant leisten können oder wollen.

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