Eine Hörspiel-Hommage um den 150. Todestag Johann Nestroys

"...aber grundschlechte Leut’!"

Die Parte wurde erst einen Tag nach dem provisorischen Leichenbegängnis in Graz, am 30. Mai 1862, gedruckt - für den 2. Juni, den Tag der großen Bestattungszeremonie auf dem alten Ortsfriedhof von Währing bei Wien.

Dort musste für den "berühmten Volksdichter und Darsteller" erst eine Gruft ausgemauert werden. Die Stätte seines Grabes hatte sich Johann Nestroy noch selbst ausbedungen, und zwar nicht, wie nachmals kolportiert, an der Seite seines Freundes und Bühnenkollegen Wenzel Scholz, sondern neben Schubert und Beethoven. Beinahe wäre er, der tote Nestroy, schnell noch einer peinlichen Amtsbehandlung durch die Zollbehörde anheimgefallen: Weil man den nächtens beim Hauptzollamt an der Wiener Verbindungsbahn eintreffenden Sarg (aus dem an sich schon verdächtigen Süden) zunächst für abgabenpflichtige Ware gehalten hatte und für längere Zeit zwischenlagern wollte. Ein aufmerksamer Beamter bemerkte den Irrtum im letzten Augenblick und ließ schleunigst eine Lokomotive für den Weitertransport anheizen.

"Nestroy-Todes-Reigen"

An Nachrufen und Huldigungen aller, auch der unfreiwillig komischen Art, gab es keinen Mangel, zumal ja Nestroy erst im November 1860 seinen Abschied von der Bühne des Carltheaters zu Wien als dessen Prinzipal und gefeierter Hauptdarsteller gegeben hatte, man die damalige Wienerische Wehmut also nur geringfügig zu adaptieren brauchte. Dennoch ist an diesen zum Teil ausufernden Epitaphen - es waren auch Trauerchorgesänge am offenen Grabe und szenische Versuche über den Verewigten im Himmel oder im elysischer Gesellschaft dabei - dennoch ist an all dem Manches bemerkenswert: Zum Beispiel, dass Nestroy schon damals durchaus auch (und von gar nicht wenigen sogar in erster Linie) als Dichter und bedeutender Satiriker gesehen wurde.

Erst in den Jahrzehnten danach begann sich das Bild vom biedermeierlich-volkstümlichen Spaßmacher zu verfestigen, das dann der große Nestroy-Nachfahre Karl Kraus ("Nestroy und die Nachwelt", 1912) in der Luft zerriss und damit eine poetisch und satirische Ehrenrettung des Sprachkünstlers unternahm. (An den anhaltenden Schwierigkeiten im Umgang mit Nestroy hat das freilich nicht viel geändert.)

Bemerkenswert auch, dass man den beliebtesten Missverständnissen schon damals bereitwillig - also offenbar aus "außer-nestroyischen" Gründen - unterlag: Etwa, indem kaum ein Nachrufer den Umstand ausließ, dass Johann Nestroy noch Ende April auf der Bühne des landständischen Theaters in Graz gestanden war, in seiner bewährten Leibrolle als der Provinzschauspieler Pitzl in der Posse "Umsonst", und da - notgedrungen - das Schlusswort "Alles übrige rein umsonst!" zu sprechen hatte. Ganze Tiraden bedeutsamen Kopfnickens schlossen sich da daran...

An dieser Stelle geziemt sich vielleicht der Hinweis, dass Nestroy das ansehnliche Barvermögen von dreihunderttausend Gulden hinterließ, das er testamentarisch zugunsten seiner treuen Gefährtin Marie Weiler gegen seine vormalige Ehefrau abzusichern suchte. Er hatte jahrzehntelang in Geldsorgen gelebt, trotz schier unvorstellbarer Arbeitsleistung. Fast bis zum Tod des berüchtigt ausbeuterischen Bühnen-Zampanos Carl Carl, der seinen neuen Riesen-Theaterbau in Wien, an Stelle der Leopoldstädter Vorstadt-Bühne, mit seinem - und nicht etwa Nestroys! - Namen schmücken ließ; sich aber schon allein aus den Erträgnissen des frühen Nestroy-Kassenschlagers "Lumpazivagabundus" draußen in Hietzing eine ganze Sammlung an Zinsvillen zugelegt hatte, die im Volksmund denn auch das "Lumpazidörfel" genannt wurde.

Als Nestroy dann, 1854, Nachfolger jenes Carl am Carltheater wurde, begann auch eine finanzielle Konsolidierung - wobei von so gut wie allen Seiten Nestroys davon unberührte Kollegialität und seine ganz ungewöhnlich starke "soziale Ader" gerühmt wird. Und nicht zuletzt auf sein diesbezügliches Gegenbild hin, jenen Herrn Carl, hat Nestroy schon anno 1837 seinen Prototyp des widerlich bornierten Geldsacks geschrieben, den "Herrn Gundelhuber" - in puncto Charakter eine präzise Vorwegnahme eines ganz anderen Herrn namens Karl. Und eben die, ohne den noch kennen zu können, die hat ihm, dem Herrn Nestroy, das Wiener Publikum auch prompt ausgepfiffen.

Missverständnisse und Verwechslungen

Vor allem aber fehlt in kaum einem Nachruf von 1862 der Hinweis auf jenen "Ausspruch" des Bühnendichters Nestroy, mit dem man ihm noch in unseren Tagen ganz gern den Garaus zu machen versucht (Karl Kraus zählte noch zum fünfzigsten Todestag voll Ingrimm vierzig ! angebliche Zitierungen). Nestroy selbst habe doch gesagt:

Bis zum Lorbeer versteig’ ich mich nicht. G’fallen sollen meine Sachen, unterhalten - lachen soll’n die Leut’, und mir soll die G’schicht a Geld trag’n, dass i a lach’, das is der ganze Zweck.

Die Verwechslung der Bühnenaussage des Satirikers mit einer privaten Äußerung ist evident - aber unglaublich haltbar. Das wiederum hat auch damit zu tun, dass es eine verbissen anti-biedermeierliche Nestroy-Partei gibt, und auch die bis zu heutigen Tag: Die Fortschrittler und gläubigen Revolutionäre, die Nestroy auf der Bühne lieber bis zur Unkenntlichkeit demontieren (ja, natürlich nur, wenn man sie lässt. Aber man lässt sie halt oft), als dass sie zugäben, dass er die grausliche Gesellschaft seiner Lebenstage - die zu einem nicht geringen Teil auch die der unsern ist - brillant skizziert, genüsslich zerlegt, durch ihre Sprache entlarvt, aber letztlich doch im überaus erkenntlichen Larvenstadium belassen hat. Er glaubte nicht an andere Entwicklungsmöglichkeiten menschlichen Zusammenlebens.

Sie haben, die Fortschrittler, bis heute ihre Probleme mit Nestroys Vor- Während- und Nach-Achtundvierziger-Stücken. Sie wissen es nur meistens nicht und werfen ihm daher die "Freiheit in Krähwinkel" vor, rühmen ihm die "Höllenangst" nach, ignorieren die Politik-Vernichtung in "Lady und Schneider", so gut es geht (es geht nicht gut) und klammern sich im übrigen an die Couplets, die man, wenn man sie nicht progressiver Weise gleich weglässt, ersatzweise mit billigen Zusatzstrophen verhunzen oder doch wenigstens mit deutlich zusammengebissenen Zähnen singen kann.

Kritiker und Diagnostiker

Es stimmt schon: Nestroy war ein fulminanter Kritiker, aber er war Diagnostiker und nicht Ankläger der Menschlerei, die sich noch immer Gesellschaft nennt. Und er war, wie schon erwähnt, Satiriker. Er lässt - in seinem späten Meisterwerk "Frühere Verhältnisse" - einen ebenso herum- wie herabgekommenen kapitalistischen Windbeutel, Säufer und Schürzenjäger über das Moralische an sich raisonnieren und, zum Knecht seines neuen Herrn geworden, den weit hinein ins Unschuldsvermutliche reichenden Satz formulieren: "Du hast nie was Anständig’s g’stohlen, Du warst nie kriminalfähig". Er sagt auch: "Was Du bist, bin ich auch, Du Lump!"

Bei ihm beharrt auch ein "Herr Überall" - sogar gesanglich - darauf, nirgendwohin als von Wien "nach Fischamend" zu reisen, weil es zwischen Simmering und Schwechat mindestens aber ganzgenausoviel zu erleben gäbe als zwischen Palma und Ibiza. (Sagt er das wirklich? Nein. Aber er meint es.) Nestroy lässt auch in der "Höllenangst" nicht irgendeinen "Kleinen Mann" an sich, sondern einen versoffenen Flickschuster (so hieß das, seinerzeit. Heute müsste das wohl heißen: einen Patchworker mit Destillationshintergrund) - lässt also den Pfrim, angeheitert heimwärts strebend, sagen: "Merkwürdig - um die Stund’n, wo nie mehr ein honetter Mensch auf der Gassen ist, begeg’n ich allerweil noch Leut’!" Und so sagen oder singen (wenn sie nicht gestrichen werden) sehr viel saudumme Leut’, wenn man sie auf die Nestroy-Bühne stellt, plötzlich blitzg’scheite Sachen über sich selber - freilich ohne es zu merken. Das ist die Voraussetzung.

Die Geschichte mit dem Lorbeer, seinerzeit ("Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab") war übrigens noch zusätzlich eine Parodie: eine Parodie auf den längst vergessenen, dazumal aber penetrant rührseligen Theatergeschäftsdichter (heute, vielleicht, Fernsehvorabendseriendialogschreiber) Karl von Holtei ("Lorbeer und Bettelstab", 1840). Und zur Verdeutlichung dessen hat der zum Heurigendichter verkommene Idealist Leicht auch noch zu sagen - über verfressene Festgäste am Buffet: "...net amal a Seel’ ham s’. - Nix ham s’ als an Appetit!"

Und überhaupt, über das Publikum des Stückedichters: "Ein G’spaß soll niemals witzig sein. Wir sind biedersinnige, gemütliche Menschen. Wir wollen überall Rührung, was für’s Herz." Deutlicher geht’s nicht mehr. Sollte man meinen. Aber diese satirische Klage muss nun seit hundertfünfzig Jahren als Original-Nestroy herhalten (und zwar, wie schon angedeutet, von mehrerlei Seiten). Das mag, wie schon der g’paßige Nestroy-Todes-Reigen vor hundertfünfzig Jahren, durch allerhand Dummheit zu erklären sein. Vor allem aber wohl durch das, was der gewordene Hausknecht, gewesene Kapitalgauner und daher seiende satirische Wanderhändler Muffl zu sagen hat, als Resumée sämtlicher früherer, nachheriger und, vor allem, währenddessiger Verhältnisse: "So gibt’s viel guate Menschen / aber grundschlechte Leut’".