Wider große Bauprojekte

Stadtraum und Öffentlichkeit

In Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, ist jeder Quadratmeter viel Geld wert. In rasendem Tempo werden Bürotürme und Kaufhäuser aus dem Boden gestampft und alte Bausubstanz vernichtet - oft ohne Rücksichtnahme auf geltende Denkmalschutzbestimmungen oder städtebauliche Gegebenheiten.

Kulturjournal, 23.05.2012

Am Samstag war Europatag in Kiew. Auf dem Khreschtschatyk-Boulevard mit seinen stalinistischen Prunkbauten ist die dominierende Farbe Rot - das Rot von McDonalds und Coca Cola, den offiziellen Sponsoren der kommenden Fußball-EM, für die hier Stimmung gemacht wird. An diesem Tag sind die acht Fahrbahnen für den Automobilverkehr gesperrt und den Fußgängern vorbehalten, sonst ist das anders in Kiew: Den Autos gehört die Stadt. Sie rasen nicht nur über die Straßen, sondern parken auch auf den Gehsteigen, sodass man ihnen als Fußgänger ausweichen und Acht geben muss, nicht angefahren zu werden.

"Das ist das größte Problem, die öffentlichen Plätze. Alles was außerhalb der privaten Räume geht", sagt der Politologe Kyryl Savin, der das Kiewer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitet. "Das ist auch so ein Erbe der Sowjetunion. Man macht ganz schöne Renovierungen in Wohnungen. Sehr oft in einem unmöglich schlechten Zustand. Jeder kümmert sich nur um sich selbst, aber gleich nach der Wohnungstür beginnt eine Ruine. Die Technik und alles in der Wohnung drin, aber sobald der private Raum zu Ende ist, das befindet sich in unmöglich schlechtem Zustand. Alles andere interessiert mich nicht."

Es geht nur ums Geld, sagt Kyryl Savin, und die schrankenlose Kommerzialisierung des öffentlichen Raums trägt zum Desinteresse an dessen Gestaltung bei: "Alles, was Kultur oder demokratische Werte, Bürgerbeteiligung, die wir gerne mittragen, sind hier ganz fremd oder nur bei bestimmten Leuten kann man darüber reden. Geld ist hier das Selbstziel und die große Motivation, und zwar in allen Bereichen."

Exkursionen zu baulich interessanten Projekten

Die Stadt gehört uns allen, sagt die Kuratorin und Theoretikerin Kateryna Botanova. Sie fordert dazu auf, sich an der Gestaltung der Stadt zu beteiligen und es nicht den Politikern und Geschäftsleuten zu überlassen, ob und wo Grünflächen und Spielplätze bestehen. Kateryna Botanova leitet das Center for Contemporary Art, eine Organisation für Gegenwartskunst, die mit Künstlerinnen auch Projekte im öffentlichen Raum umsetzt. Dabei geht es ihr darum, auf behutsame Weise auf Qualitäten und Schwachstellen der Stadt hinzuweisen. Kennt man die Stadt besser, so schätzt man sie auch mehr. Botanova nennt ein Beispiel:

"Die Künstler- und Architektengruppe Grupa Predmietev hat einen Stadtplan von Kiew zusammengestellt, in dem kleine architektonische Objekte angeführt sind. Sie sind großteils nicht mehr in Gebrauch, tragen aber noch die Spuren der Moderne der 1970er Jahre. Das ist eine architekturhistorisch interessante Epoche, die Überreste werden jedoch von der Stadtverwaltung rücksichtslos beseitigt, etwa eine Bushaltestelle oder ein kleiner Kiosk. Es gibt also diesen Stadtplan mit diesen Objekten, und wir wollen Exkursionen veranstalten, um zu erklären, warum sie interessant sind, was ihre Geschichte und ihre kulturhistorische Bedeutung ist."

Für Skulpturen oder Aufführungen im öffentlichen Raum Genehmigungen von den Behörden zu bekommen, ist ein langwieriges und mühsames Unterfangen. Auch die Bürokratie stellt eine Art Zensur dar, sagt Botanova.

Kampf mit Bürokratie

Mit der ukrainischen Bürokratie hat auch Anna Khvyl schlechte Erfahrungen gemacht. Sie forscht an der Kiew-Mohyla-Akademie zu Urbanismus. Als Aktivistin setzt sie sich gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums ein. Wenn etwa Gerüchte aufkommen, dass ein altes Gebäude einem neuen Bürohaus weichen soll, versucht Anna Khvyl, gemeinsam mit anderen, an offizielle Informationen zu gelangen und den Prozess öffentlich zu machen.

"Die Bürokratie verschleiert die Prozesse", sagt Anna Khvyl. "Man schreibt eine Institution an, wartet Monate auf eine Antwort, die dann lautet: Stellen Sie Ihre Anfrage an diese und jene Institution – ohne dass der Brief direkt weitergeleitet wird. Es ist ein sehr undurchschaubares System."

Gemeinsam mit anderen organisiert Anna Khvyl Demonstrationen, Mahnwachen und Informationsstände zu bedrohten Bauobjekten. Obwohl die Planungsprozesse undurchsichtig sind und die Korruption im Bauwesen ein massives Problem ist, nimmt Anna Khvyl erste Verbesserungen wahr: "Noch vor zehn Jahren hätten sich die Behörden nicht bemüht zu signalisieren, dass sie die Meinung der Bürger kümmert. Heute will sich - zumindest eine der Investorenfirmen - keinen schlechten Namen machen. Das Prestige der Firma steht am Spiel."

Und so werden hin und wieder Bürgerforen veranstaltet, um Anrainerinnen und andere Betroffene in den Planungsprozess eines Bauprojektes einzubeziehen. Doch auch diese verordneten Treffen sind nicht immer ernst zu nehmen, räumt die Stadtforscherin Anna Khvyl ein, werden die Teilnehmer zuweilen von den Developern als Statisten angeheuert.

Organisation via Medien

Auch die Radiojournalistin Bohdana Kostyuk engagiert sich in einer Bürgerbewegung für konkrete Plätze in der Stadt, die von Baumaßnahmen bedroht sind. Es sind vor allem kleine Parks und Spielplätze, die erhalten werden sollen.

"Wir haben Verbindungen ins Ministerium für regionale Entwicklung und in die Stadtverwaltung", erzählt Bohdana Kostyuk. "Wir sind Journalisten und Informanten, wir machen die Nachrichten. Wir schreiben E-Mails und Facebook-Einträge. Wenn ein Platz in Gefahr ist, organisieren wir Streikposten, um die Stadt zu bewahren, ihre Gärten und ihren Geist. Einige Investoren haben erkannt, dass Verhandlungen mit den Behörden und den Anrainer ihnen nachträgliche Schwierigkeiten ersparen können."

Protestiert wird mit Mahnwachen, mitunter auch Demonstrationen. Von Vorteil ist dabei die Erfahrung einiger Aktivisten, die sie bei der Bewegung "Ukraine ohne Kutschma" und bei der Orangenen Revolution gemacht haben. Sie wissen, wie man Menschen vor der Polizei schützen und Gruppen organisieren kann.

Bei einem Spaziergang durch die historische Altstadt von Kiew, zeigt Bohdana Kostyuk Orte, wo die Bürgerbewegung sich gegen Investoreninteressen durchsetzen konnte, und solche wo sie erfolglos blieb. Etwa ein denkmalgeschütztes Gebäude, das - im Zuge der Sanierung - ohne Genehmigung mit zwei Etagen aufgestockt worden ist. Die Developer nehmen die viel zu gering angesetzte Geldstrafe einfach in Kauf.

"Ich war sehr überrascht, als in Lugansk eine Besetzung organisiert wurde, als ein örtlicher Geschäftsmann einen kleinen Park zerstören wollte", so Bohdana Kostyuk. "Lugansk ist eine sehr passive und destruktive Stadt, müssen Sie wissen. Wenn selbst hier die Leute sich zu wehren beginnen, bedeutet das, dass es in der ganzen Ukraine ein Aufwachen gibt." Der erste Schritt zu einer funktionierenden Zivilgesellschaft ist getan, sagt Bohdana Kostyuk zuversichtlich.