Raymond Carver ungekürzt

Beginners

Es gibt Autoren, die begrüßen ihre Leser mit einem sanften Wetterbericht, oder einer präzisen Verortung. Raymond Carver gehört nicht zu dieser Kategorie. Raymond Carver ist einer, der buchstäblich mit der Tür ins Haus fällt.

Keinesfalls kann man Raymond Carver vorwerfen, dass er seine Intros zu vage anlegt. Seine Kurzgeschichten eröffnen blitzartig einen Bildausschnitt aus einem zumeist ziemlich schrägen Tableau. Es wird nicht lange herumgefackelt, man weiß gleich woran man ist.

Chronist der amerikanischen Vorstädte

Willkommen in der Welt von Raymond Carver, einer Welt, in der es häufig bergab und selten wieder nach oben geht, oder, wie er selbst schreibt, "wo Niederlagen und Tod eher die Regel sind als die Ausnahme". Kurz: Eine Welt, mit deren Akteuren man keinen Tag tauschen möchte.

Wie Richard Yates oder John Cheever ist auch Raymond Carver ein treffsicherer Chronist der amerikanischen Vorstädte. Figuren, die von der Spur abgekommen sind oder nie eine hatten, vertreiben sich die Zeit mit Alkohol, Zigaretten und ziemlich knappen Dialogen. Gesoffen wird praktisch rund um die Uhr. Dabei geht es nie um gepflegte Cocktails oder ein Gläschen über den Durst, die Rede ist von "heavy drinking", also Whiskey zum Frühstück, der Einfachheit halber aus der Kaffeetasse, weil gerade kein Glas in der Nähe ist, Batterien von Bier - nicht nur vor, sondern auch während dem Autofahren - und Gin, der die Schwermut nicht vertreibt, sondern geradezu heraufbeschwört.

Da vertraut sich der alte Vater seinem Sohn an, gesteht ihm in einer Lebensbeichte den Verrat an seiner Frau. Und der Sohn? Bestellt einen Drink nach dem anderen und beobachtet die Blondine am Nebentisch. Fast hat man sich an das herzlose Szenario gewöhnt, ist auch schon ganz betrunken von den vielen Whiskeys und hofft auf ein baldiges erlösendes Ende. Da eröffnet die banale Betrugsgeschichte noch einen elenden Hinterhalt und das Leben zeigt noch einmal seine garstigste Fratze.

Erlösung gibt es keine in dieser ganz normalen Hölle. Denn es sind keine tragischen Helden, die hier die Arschkarte ziehen, sondern stinknormale Verlierer von nebenan.

Die Hand des Lektors

Carver weiß, was er da erzählt, er hatte jahrelang getrunken und seine erste Ehe in den Sand gesetzt. Lange Zeit schlug sich der 1938 geborene Sohn eines Wanderarbeiters und einer Putzfrau mit Gelegenheitsjobs durch, erst spät konnte er sich ganz dem Schreiben widmen. Sein zweites Leben, wie er es selbst nennt, begann 1977. Da hörte er nach einer Reihe von Krankenhausaufenthalten mit dem Trinken auf und blieb für den Rest seines Lebens trocken - elf Jahre, Carver starb 1988 im Alter von 50 Jahren.

Vielleicht erklärt das labile Gleichgewicht seiner prekären Existenz jene merkwürdige Beziehung, die Raymond Carver von 1969 bis 1983 mit seinem Lektor Gordon Lish verband. Carver jobbte gerade in einem Fachbuchverlag in Palo Alto, als er Lish kennen lernte, der ebenfalls in einem Verlag arbeitete. Lish - redegewandt, exzentrisch und ein Literat - begann, Carver zum Essen zu sich einzuladen und mit ihm über Bücher zu sprechen. Lish war begeistert von Carvers exotischen Figuren und ermutigte den bald schon wieder Arbeitslosen zum Schreiben.

Lish ging 1969 nach New York und wurde Literaturredakteur beim "Esquire". Während der 1970er Jahre druckte er regelmäßig Kurzgeschichten von Carver ab. Carver empfand offenbar tiefe Dankbarkeit für die Unterstützung und das Lektorat. Im November 1974 schrieb er an Lish:

Kurz- und Kürzestgeschichten

Zumindest die Literaturkritik eroberte Carver im Sturm: Der 1981 veröffentlichte Kurzgeschichtenband: "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" löste begeisterte Kritiken aus. Man lobte seinen lakonischen Stil, seinen minimalistischen Realismus. Auf Seite eins der "Times"-Book-Review schrieb Michael Wood: "In Mr Carvers Schweigen wird ein großer Teil des Unsagbaren gesagt."

Was viele nicht wussten: Viel von diesem Schweigen war das Ergebnis von Lishs Lektorat. Lish hatte zwei Erzählungen um beinahe 70 Prozent gekürzt, andere um die Hälfte. Viele Beschreibungen und Abschweifungen waren gestrichen, der Lektor schreckte auch nicht davor zurück, Enden abzuschneiden oder überhaupt gleich umzuschreiben.

Carver genoss den neuen Ruhm – und litt fürchterlich. Dankbar für den Schliff und die Zuspitzung empfand er doch die teilweise grausamen Schnitte an seinen Texten als "chirurgische Amputation", bettelte um Wiederherstellung einzelner Passagen und wagte doch nicht, den Mann, dem er so viel verdankte, vor den Kopf zu stoßen. Anfang 1983 trennten sich die Wege des talentierten Gespanns.

Gar nicht so abgebrüht

Die Originalversion des um mehr als 50 Prozent gekürzten Erzählbands liegt nun im S. Fischer Verlag vor. Der Titel "Beginners", wurde einst von Lish durch "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" ersetzt. Die zehnseitigen Anmerkungen geben wenig Aufschluss über das Ausmaß der Veränderung, die das Lektorat am Text damals vorgenommen hat. Dazu muss man sich ein Exemplar des mittlerweile vergriffenen Buches von 1981 besorgen. Es ist ein schmales Bändchen, so wild hat Lektor Lish damals den Text gekürzt.

Die jetzt erschienene Originalversion ist deutlich besser übersetzt (von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié) und macht den Autor greifbar: Man merkt beim Lesen, dass Raymond Carver zwar lakonisch, aber nicht so abgebrüht war, wie es die Texte nach Lishs Rasierklingeneinsatz nahe legten. Auch ein heutiger Lektor würde einige redundante Passagen streichen und den Autor zu "Erzählökonomie" anhalten. Was Lish getan hat, wiegt aber schwerer: Er drückte den Texten von Raymond Carver einen Stempel auf, indem er sie stilistisch so stark beschnitt, dass manche der Figuren dabei ihren Charakter einbüßten.

Wie immer man die Eingriffe von Gordon Lish beurteilt, "Beginners" bietet jetzt die Gelegenheit, den Schriftsteller Raymond Carver ungefiltert kennen zu lernen.

Text: Clarissa Stadler

Service

Raymond Carver, "Beginners", aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer

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