Zwangsterilisation in Kinderheimen
Experten fordern die Aufklärung über den Umgang mit Kindern mit Behinderungen, die Großteils in Heimen gelebt haben. Als besonders schwerwiegende Form von Gewalt bezeichnen sie Zwangssterilisationen bei Mädchen und Frauen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. In Österreich sind solche Zwangssterilisationen bis nach dem Jahr 2000 durchgeführt worden.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 17.09.2012
Druck auf Eltern behinderter Kinder
Meist sind die Sterilisationen getarnt worden – durch eine Blinddarmoperation. Dass sie danach keine Kinder mehr bekommen können, wussten die betroffenen Mädchen mit Behinderungen bzw. intellektuellen Beeinträchtigungen nicht. Nur ihre Eltern waren einverstanden mit der Zwangssterilisation – oft aber auf Druck von Ärzten und Behindertenheimen, sagt der Kinderpsychiater Ernst Berger: "Viele Träger von Behindertenwohneinrichtungen haben von den Eltern auch verlangt, dass diese Sterilisationseingriffe vor der Aufnahme in eine solche Einrichtung durchgeführt werden."
Laut Berger und dem Tiroler Behindertenrechtsexperten Volker Schönwiese hat der 1997 verstorbene führende Wiener Psychiater im Behindertenbereich Andreas Rett Zwangssterilisationen generell unter einem Intelligenzquotienten von 85 befürwortet. Somit sei nicht auszuschließen, dass Mädchen sterilisiert wurden, die aus heutiger Sicht gar nicht als behindert gelten würden.
Die Sterilisationen hätten vor allem sexuelle Gewalt erleichtert bzw. das Aufdecken sexueller Gewalt durch Betreuer oder andere Behinderte erschwert, erklärt Berger: "Weil ja der Freibrief für sexuellen Missbrauch ausgestellt wird, weil nicht der Missbrauch durch die Sterilisation verhindert wird, sondern nur die nachfolgende Schwangerschaft."
Fortsetzung der Eugenik-Tradition
Behindertenrechtsexperte Schönwiese sieht die Sterilisationen als Fortsetzung der geistigen Tradition der Eugenik aus dem 19. Jahrhundert: "Behinderten Menschen wurde unterstellt, dass sie die menschliche Rasse verschlechtern und wurden deswegen isoliert und abgetrieben, bis sie bei den Nationalsozialisten direkt getötet werden sollten." Und das ehemalige NSDAP-Mitglied Psychiater Andreas Rett habe sich in mancher Hinsicht von den Gedanken der Eugenik offenbar nicht gelöst, so Schönwiese: "Triebdämpfung, Sterilisation, Abtreibung bei behinderten Frauen – das ist in Summe eine Art Vernichtungsfeldzug gegen behinderte Menschen."
Der langjährige Weggefährte und Stellvertreter von Andreas Rett, Heinz Krisper, sagt, dass Rett bei einem IQ unter 85 generell für Sterilisationen gewesen sei, das wisse und glaube er nicht. Es sei immer im Einzelfall entschieden worden mit Blick auf die Behinderung und die Gesundheit der Nachkommenschaft. Und Krisper sagt, man sei damals in einem Dilemma gewesen: Für Mutter und Kind hätten Schwangerschaften höchstproblematisch sein können. Und Abtreibungen seien damals – anders als heute verpönt gewesen und auch nicht ungefährlich. Aber der Rett-Stellvertreter sagt auch zu den Sterilisationen: "Aus heutiger Sicht ist es nicht das Beste."
Nun Gutachten und Gericht nötig
Seit etwa zehn Jahren sind Sterilisationen ohne das Wissen und Verstehen der Betroffenen nur nach einem Gutachten und einem Gerichtsbeschluss erlaubt. Laut Expertinnen vom Wiener Verein Ninlil bekommen Frauen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oft Mittel zur Empfängnisverhütung – teils mit ihrem Einverständnis teils aber auch ohne ausreichende Erklärung. Vermutlich gibt es Schwangerschaftsabbrüche. Wenn eine Betroffene ein Kind zur Welt bringt, ist es meist völlig gesund. Aber laut dem Verein Ninlil werden diese Kinder meist gleich nach der Geburt vom Jugendamt abgenommen und kommen zu Pflegeeltern.
Behindertenrechtsexperte Schönwiese fordert daher mehr Betreuungshilfe für solche Fälle, damit die Frauen ihre Kinder behalten können. Für die Betroffenen von Zwangssterilisation fordern die Experten Berger und Schönwiese Anerkennung – auch in Form von Anerkennungszahlungen.