Miese Stimmung

Einerseits nerven die Management- und Selbstoptimierungs-Gurus, die die prometheische Kraft des "Positive Thinking" propagieren, andererseits ist es wahrscheinlich wirklich erfolgversprechender, auf die Macht positiver Autosuggestionen zu setzen.

Wer sich ein halbleeres Glas in ein halbvolles umlügt, pardon, uminterpretiert, lebt wahrscheinlich tatsächlich glücklicher und auch gesünder.

Als "Streitschrift gegen positives Denken" wird Arnold Retzers Buch von Verlag S. Fischer angekündigt. Das klingt flott und provokant, ist aber ein Etikettenschwindel. Denn so interessant viele von Retzers Thesen auch sein mögen: Das Buch ist kein Streitschrift gegen positives Denken, sondern eine vielschichtige und behutsam argumentierende Untersuchung zu Themenkreisen wie "Angst", "Traumaforschung" oder "Depression".

Eins wird schon auf den ersten Seiten deutlich: Arnold Retzer ist ein überzeugter Kritiker esoterischer und halbesoterischer Heilslehren.

Retzer ist da skeptisch. Auf dem Buchmarkt allerdings tummeln sich Scharlatane aller Couleurs, behauptet Retzer, charismatische New-Age-Quacksalber, die mit den Hoffnungen Schwerkranker Geschäfte machen und auflagenträchtige Nonsens-Theorien wie die sogenannte "Quantenheilung" propagieren.

Namentlich attackiert Retzer Esoterik-Heiler wie Deepak Chopra, Walter Last und Bernie Siegel, die das Immunsystem Krebskranker mit Traumreisen, Autosuggestionen und der "Macht des positiven Denkens" stärken wollen. Das sei schlicht und einfach Unfug, erklärt Retzer mit Blick auf 165 wissenschaftliche Studien zum Thema, die derartiges als esoterisches Geschwurbel entlarven.

Wer einem Kranken einrede, er könne Krebs mit positivem Denken "weghoffen", bürde dem Patienten häufig Schuldgefühle auf, wendet Arnold Retzer ein: Wer seine Krebserkrankung trotz ausgedehnter "Traumreisen" und anderer Selbst-Suggestionstechniken nicht einzudämmen vermag, glaubt letztlich selbst an seiner Erkrankung schuld zu sein.

Letztlich ist es wohl magisches Denken, was hinter den Heilslehren der meisten alternativmedizinischen Schulen steckt. Und ein gutes Stück Machbarkeitswahn - ganz nach dem Motto: Glaubt man nur fest genug daran, ist ALLES machbar.

Arnold Retzer sieht die Dinge grundsätzlich anders. In seinen Augen sind Unglücksfälle und kleinere oder größere Katastrophen selbstverständlicher Bestandteil des Lebens – und oft genug ist niemand dafür verantwortlich. Oft geschehen Tragödien einfach, ohne Grund. Das aber will der esoterisch Verblendete nicht einsehen.

Retzer plädiert für eine Haltung der "resignativen Reife". Vermeidbares Unglück soll vermieden, unvermeidbares trauernd akzeptiert werden.
Ausführlich beschäftigt sich der Heidelberger Therapeut in seinem Buch mit dem Thema Depression. Seine Auslassungen dazu gehören zu den erhellendsten Passagen des Bands:

Wut und Tränen können dabei hilfreich sein. Wer es sich leiste, wütend zu sein, setze der depressiven Gefühlsleere ein starkes, körperlich gut spürbares Gefühl entgegen, meint Arnold Retzer. Ähnliches gilt für das Gefühl der Trauer.

Anders ausgedrückt: Der Trauernde macht sich nichts vor.

Arnold Retzers Buch bietet eine Fülle an inspirierenden, Einsichten. Eine überzeugende Abrechnung mit dem "Positiven Denken" liegt hier allerdings, bis auf einige wenige Sequenzen, nicht vor.

Service

Arnold Retzer, "Miese Stimmung – Eine Streitschrift gegen positives Denken", Verlag S. Fischer, Frankfurt