Miese Stimmung
Einerseits nerven die Management- und Selbstoptimierungs-Gurus, die die prometheische Kraft des "Positive Thinking" propagieren, andererseits ist es wahrscheinlich wirklich erfolgversprechender, auf die Macht positiver Autosuggestionen zu setzen.
8. April 2017, 21:58
Wer sich ein halbleeres Glas in ein halbvolles umlügt, pardon, uminterpretiert, lebt wahrscheinlich tatsächlich glücklicher und auch gesünder.
Als "Streitschrift gegen positives Denken" wird Arnold Retzers Buch von Verlag S. Fischer angekündigt. Das klingt flott und provokant, ist aber ein Etikettenschwindel. Denn so interessant viele von Retzers Thesen auch sein mögen: Das Buch ist kein Streitschrift gegen positives Denken, sondern eine vielschichtige und behutsam argumentierende Untersuchung zu Themenkreisen wie "Angst", "Traumaforschung" oder "Depression".
Eins wird schon auf den ersten Seiten deutlich: Arnold Retzer ist ein überzeugter Kritiker esoterischer und halbesoterischer Heilslehren.
Zitat
"Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wird vielerorts lautstark behauptet, dass die richtige Einstellung Krankheit verhindern bzw. gesund machen könne, selbst bei Krebs. Kann man Krebs weghoffen?"
Retzer ist da skeptisch. Auf dem Buchmarkt allerdings tummeln sich Scharlatane aller Couleurs, behauptet Retzer, charismatische New-Age-Quacksalber, die mit den Hoffnungen Schwerkranker Geschäfte machen und auflagenträchtige Nonsens-Theorien wie die sogenannte "Quantenheilung" propagieren.
Namentlich attackiert Retzer Esoterik-Heiler wie Deepak Chopra, Walter Last und Bernie Siegel, die das Immunsystem Krebskranker mit Traumreisen, Autosuggestionen und der "Macht des positiven Denkens" stärken wollen. Das sei schlicht und einfach Unfug, erklärt Retzer mit Blick auf 165 wissenschaftliche Studien zum Thema, die derartiges als esoterisches Geschwurbel entlarven.
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"Ein direkter Einfluss psychischer Faktoren auf die Entstehung von Krebs ist nicht nachgewiesen. Ebenso ist es unrealistisch, an Hoffnung, Optimismus und positive Gedanken die Erwartung an Heilung zu knüpfen. Es erkranken auch nicht jene Menschen eher an Krebs, die ihre Gefühle unterdrücken oder eher pessimistischen Gedanken nachhängen."
Wer einem Kranken einrede, er könne Krebs mit positivem Denken "weghoffen", bürde dem Patienten häufig Schuldgefühle auf, wendet Arnold Retzer ein: Wer seine Krebserkrankung trotz ausgedehnter "Traumreisen" und anderer Selbst-Suggestionstechniken nicht einzudämmen vermag, glaubt letztlich selbst an seiner Erkrankung schuld zu sein.
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"Zwar versuchen viele Ärzte bei ihren Patienten eine hoffnungsvolle, kämpferische Haltung anzuregen und zu unterstützen. Doch die Hoffnung, dass Patienten dadurch zu einem längeren Überleben beitragen könnten, hat sich nicht bestätigt. Dass man Krebs mit positivem Denken niederringen könne, ist ein gefährlicher Irrglaube. Das Leben von Krebspatienten wird durch noch so viel Hoffnung und positives Denken nicht verlängert."
Letztlich ist es wohl magisches Denken, was hinter den Heilslehren der meisten alternativmedizinischen Schulen steckt. Und ein gutes Stück Machbarkeitswahn - ganz nach dem Motto: Glaubt man nur fest genug daran, ist ALLES machbar.
Arnold Retzer sieht die Dinge grundsätzlich anders. In seinen Augen sind Unglücksfälle und kleinere oder größere Katastrophen selbstverständlicher Bestandteil des Lebens – und oft genug ist niemand dafür verantwortlich. Oft geschehen Tragödien einfach, ohne Grund. Das aber will der esoterisch Verblendete nicht einsehen.
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"Tragödien müssen in Schuld verwandelt werden. Es muss eine Notwendigkeit geben für das, was geschieht. Epidemien brechen aus, Krankheiten, Erdbeben oder Naturkatastrophen – und verzweifelt sucht man nach einem Grund. Man fragt: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt viele Menschen nicht zufrieden."
Retzer plädiert für eine Haltung der "resignativen Reife". Vermeidbares Unglück soll vermieden, unvermeidbares trauernd akzeptiert werden.
Ausführlich beschäftigt sich der Heidelberger Therapeut in seinem Buch mit dem Thema Depression. Seine Auslassungen dazu gehören zu den erhellendsten Passagen des Bands:
Zitat
"Depressionen lassen sich als ein Versuch verstehen, problematische Erfahrungen zu verarbeiten und ein Problem (oder mehrere Probleme gleichzeitig) zu lösen. Etwas ist nicht so, wie es sein soll oder wie man es erwartet. Der Lösungsansatz bei der Depression besteht darin, an den alten Ansprüchen festzuhalten. Depressionen sind der Versuch, mit Enttäuschungen umzugehen, ohne die eigene Haltung oder die Situation zu verändern.
Dieser Ansatz ist nicht erfolgversprechend… Ein Ausstieg aus der Depression ist nur möglich, wenn wir auf den Lösungsversuch "Alles soll wieder so werden, wie es war, oder so, wie ich es mir vorstelle" verzichten."
Wut und Tränen können dabei hilfreich sein. Wer es sich leiste, wütend zu sein, setze der depressiven Gefühlsleere ein starkes, körperlich gut spürbares Gefühl entgegen, meint Arnold Retzer. Ähnliches gilt für das Gefühl der Trauer.
Zitat
"Der Trauernde und der Depressive machen die gleiche Erfahrung, gehen aber unterschiedlich damit um. Beide machen die Erfahrung, dass die Landschaft des realen Lebens nicht mehr zur Landkarte passt, die man sich angefertigt und bisher benutzt hat. Der Depressive versucht weiterhin seine Landkarte zu benutzen, auch wenn er damit nirgendwo hingelangt. Der Trauernde dagegen realisiert, dass seine alte Landkarte ausgedient hat, sie wird der Realität nicht mehr gerecht, er kann sich an ihr nicht mehr orientieren. Diesen Verlust betrauert er."
Anders ausgedrückt: Der Trauernde macht sich nichts vor.
Zitat
"Der Trauernde sieht dem Verlust oder dem Tod ins Auge und bleibt dadurch lebendig. Dagegen hält der Depressive Totes am Leben und tötet dadurch Lebendiges, nämlich sich selbst oder einen wesentlichen Teil seiner Möglichkeiten."
Arnold Retzers Buch bietet eine Fülle an inspirierenden, Einsichten. Eine überzeugende Abrechnung mit dem "Positiven Denken" liegt hier allerdings, bis auf einige wenige Sequenzen, nicht vor.
Service
Arnold Retzer, "Miese Stimmung – Eine Streitschrift gegen positives Denken", Verlag S. Fischer, Frankfurt