Tausende Bücher aus Bibliothek gestohlen

Es ist vermutlich der größte Bücherraub der Nachkriegszeit. In Neapel, in einer der bedeutendsten historischen Bibliotheken, wurden systematisch etwa 1.000 wertvolle Bücher gestohlen und weiterverkauft. Der Täter war kein geringerer als der Direktor selbst, ein von der Berlusconi-Regierung eingesetzter Hochstapler mit falschem Doktor- und Adelstitel.

Mittagsjournal, 9.10.2012

Aus Italien,

Wertvolle Galileo-Schrift entwendet

Jedes Mal, wenn der überführte Direktor der altehrwürdigen Biblioteca dei Girolamini vor die Richter tritt, gibt er noch eine seiner Untaten zu. Bei 4.000 gestohlenen Büchern und Manuskripten aus wertvollen Sammlungen hält die Liste der Staatsanwaltschaft im Augenblick. Darunter die einzigen Originalausgaben einer Schrift von Galileo Galilei, Kulturschätze von unermesslichem Wert, ausgetauscht mit Fälschungen. Es ist dem Kunsthistoriker Tommaso Montanari zu verdanken, dass das Ganze aufgeflogen ist. Bei einem Besuch ist er auf die skandalösen Zustände in der einstigen Klosterbibliothek gestoßen. Er erzählt: "Da waren jahrhundertealte Bände am Boden aufgetürmt, die Bibliothek willkürlich umgeräumt, die totale Verwahrlosung. Und dann haben mir die beiden alten Bibliothekare zugeflüstert, dass Merkwürdiges geschieht: abgedrehte Alarmanlagen, nächtliches Hin und Her von Autos. Sie vermuteten Bücherdiebstahl."

Hochstapler als Bibliotheksdirektor

Kunsthistoriker Montanari wandte sich an das Kulturministerium und an die Polizei – und fand kein Gehör. So schrieb er einen Zeitungsartikel und die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln. Es kam zutage, dass Bibliotheksdirektor Marino Massimo De Caro weder Doktor, noch Professor und schon gar kein Prinz war – wie er vorgegeben hatte. Der 39-Jährige war einer, den Italiens Antiquare bereits aus ihrer Vereinigung ausgeschlossen hatten. Berlusconis Kulturminister schickte ihn nach Neapel und machte ihn zugleich zu seinem Berater in Antiquariatsfragen. Der Mann, der De Caro dem Kulturminister ans Herz gelegt hatte, ist einer der verrufensten Vertrauten Berlusconis: Marcello dell’Utri, Senator der Republik, rechtskräftig verurteilter Mafioso und Sammler wertvoller Bücher.

Europaweites Netzwerk vermutet

Hochstapler De Caro hat nicht nur die ihm anvertraute Bibliothek geplündert. Als Berater des Ministers ließ er sich von Bibliotheken in ganz Italien die wertvollsten Bände vorlegen. Und hat sie einfach geklaut. Mit De Caro wurden weitere Mittäter verhaftet, Millionen Euro sind geflossen, gestohlene Bücher sind in Deutschland aufgetaucht. Die Ermittler vermuten ein europaweites kriminelles Netz. "Der Verlust ist größer als der materielle Wert", sagt Kunsthistoriker Montanari und fährt fort: "Es ist die Verwüstung einer Bibliothek, die Zerstörung ihres historischen Körpers. So als würde das Kunsthistorische Museum in Wien ausgeraubt. Der Verlust eines unschätzbaren Wertes."

Morddrohungen gegen Aufdecker

Leider fehlt in Italien – klagt Montanari – eine echte Wertschätzung für Kunst und Kultur. Die Berlusconi-Jahre hätten die letzten Dämme von Scham weggespült, aber auch in der Regierung Monti hielten viele die Kultur nur für ein teures Hobby. "Man muss leider auch sagen, dass in all dem die Rolle des Erzbistums Neapel und des Vatikans verheerend war. Sie haben nicht geholfen - nur vertuscht. Eine bittere Lektion", sagt Montanari.

Zum Glück gebe es in Italien noch eine Zivilgesellschaft. Nach der Veröffentlichung seines Artikels wurde er bedroht und eingeschüchtert. Dann aber erhoben sich Intellektuelle und Kulturschaffende zu seiner Unterstützung. Angesichts einer korrupten Politik und einer korrupten Kirche – so der Kunsthistoriker – seien die funktionierende Öffentlichkeit und die unabhängige Justiz doch ein Grund zu Optimismus.