Problematische Kindesabnahmen

Noch selten zuvor haben Experten derart scharfe Kritik an der österreichischen Jugendwohlfahrt, den Familiengerichten und der Sozialpolitik geübt wie bei einer Tagung in Salzburg über den Umgang mit Heimkinder. Besonders kritisiert wurde, dass es Heimkindern viel zu selten und zu kurz ermöglicht werde, ihre Eltern zu sehen.

Morgenjournal, 23.01.2012

Kritik am Besuchsrecht

Was geht in den Köpfen von Sozialarbeitern und Richterinnen vor, die es Kindern oft nur ein bis zwei Stunden im Monat ermöglichen, ihre Eltern zu sehen, fragt der Wiener Erziehungswissenschaftler Helmuth Figdor bei der Tagung in Salzburg. Österreich sei ein seltsames Land meint er und nennt als Beispiel eine Kindesabnahme in jüngster Zeit: "Angesichts einer Krise nimmt das Jugendamt die 5 Kinder einer Familie von einem Tag auf den anderen ab, darunter ein knapp 2-jähriges Kind, das sechs Wochen lang seine Eltern nicht sehen darf. Nach sechs Wochen gibt es einen Beschluss zu einem Besuchsrecht von einer Stunde alle drei Wochen." Dabei sei die Trennung von den Eltern ein Beziehungsabbruch, eine Traumatisierung.

"Entscheidung zwischen 2 Traumata"

Es mag schon sein, dass manche Kinder aus Familien genommen werden müssen, formuliert Figdor provokant: "Aber ich denke, die Jugendwohlfahrt müsste wissen, dass es sich hier immer um eine Entscheidung zwischen zwei Traumata handelt. Es geht als nicht nur darum, ein Kind aus einer traumatischen Situation zu retten, sondern es geht darum abzuwägen, was ist traumatischer."

Schlechte sozialpsychologische Versorgung

Figdor zufolge stimmt es auch nicht, dass Kinder nur wegen Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung in Heime kommen. Speziell am Land gebe es zu wenig sozialpsychologische Betreuungs-Angebote für Kinder mit Leseschwächen, Sprachstörungen oder anderen sogenannten Teilleistungsschwächen, sagt er. Das Ergebnis: Auch diese Kinder würden monate- oder jahrelang in heilpädagogischen Stationen untergebracht: "Ich unterstelle einem Großteil der verantwortlichen Politikern, dass sie keine Ahnung haben, dass wir in der sozialpsychologischen Versorgung von Kindern gute 25 Jahre hintennach sind."

Kritik an Ausbildung

Aber auch Kritik an einer der Ausbildungsformen für Erzieherinnen und Erzieher ist gestern laut geworden. Monika Herowitsch-Trinkl, Leiterin einer Wohngemeinschaft, plädiert für eine Abschaffung der drei Bundesinstitute für Sozialpädagogik in der derzeitigen Form, weil diese Ausbildung gleich nach der Pflichtschule beginnt: "14-jährige sollen sich entscheiden, ob sie Erzieher werden oder nicht, und in der Blüte der Pubertät lernen, wie man Kinder erzieht. Das geht einfach nicht."

Bundeseinheitliches Kinderhilfegesetz gefordert

Und einig sind sich fast alle Tagungsteilnehmer bei einer Botschaft an die abwesenden Politiker: Nach vier Jahren Erfolglosigkeit, müssten Bund und Länder endlich das modernere bundesweit einheitliche Kinderhilfegesetz beschließen. Georg Dimitz, Vorsitzender des Sozialarbeiter-Berufsverbands meint sogar: "Reformfähig wird das Sytem erst, wenn wir die Bundesländer abschaffen. Und zwar in ihrer Gesetzgebungskompetenz."

Reformbereitschaft groß

Zufrieden scheint unter den Tagungsteilnehmern kaum jemand zu sein mit der derzeitigen Situation. Bleibt als vermutlich positivste Erkenntnis: Die Reformbereitschaft unter Sozialarbeitern, Erziehern und Richtern ist groß.