Timothy Snyderspricht mit Tony Judt

Nachdenken über das 20. Jahrhundert

Im Jahr 2008 erkrankte der renommierte britsch-amerikanische Historiker Tony Judt an amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS genannt, einer unheilbaren Erkrankung des Nervensystems, die nach und nach zu Lähmungen und schlussendlich zum Tod führt. Im Jänner 2009, als klar war, dass Tony Judt nicht mehr schreiben können würde, begann der um 20 Jahre jüngere Historiker Timothy Snyder, ausführliche Gespräche mit Tony Judt zu führen.

Das Ergebnis ist ein Band, der soeben im Hanser-Verlag erschienen ist. Titel: "Nachdenken über das 20. Jahrhundert". Eineinhalb Jahre nach Tony Judts Tod kann man hier nun das politische und geschichtsphilosophische Vermächtnis des bedeutenden New Yorker Historikers nachlesen.

Räsonierende Ausflüge

Gesprächsbände haben - man denke an die platonischen Dialoge - eine lange und alles andere als ruhmlose Tradition in der abendländischen Kulturgeschichte. Insofern bewegen sich Timothy Snyder und Tony Judt auf bestens abgesichertem Terrain, wenn sie die neuere Geschichte Europas und der USA in Form eines 400-seitigen Gesprächs zu evaluieren versuchen.

"Nachdenken über das 20. Jahrhunderts": Der Band ist in neun Kapitel unterteilt, der Aufbau der einzelnen Kapitel ist stets der gleiche: Zunächst berichtet Tony Judt von entscheidenden Abschnitten seiner Biografie, dann unternehmen Snyder/Judt ´in historische und politische Gefilde, die mit dem jeweiligen Kapitel der Judtschen Vita zu tun haben.

Im Falle von Tony Judts Kindheit - er wurde 1948 als Sohn jüdischer Emigranten in London geboren - führt dieser räsonierende Ausflug ohne Umwege zum jüdischen Erbe Osteuropas und in die Habsburger-Monarchie. Beide, Tony Judt wie Timothy Snyder, haben eine Zeitlang in Wien gelebt und geforscht, beide sind exzellente Kenner der österreichischen Geschichte.

Das Wien von Stefan Zweig

Das Wien der Jahrhundertwende ist heute längst von einem nostalgischen Flor umgeben. Viele Kulturhistoriker zitieren Stefan Zweigs "Welt von gestern", wenn sie die Habsburger-Metropole als kosmpolitisches Laboratorium der Moderne heraufbeschwören. Dabei dürfe man Stefan Zweigs melancholischen Rückblick auf das Wien vor 1914 keineswegs wörtlich nehmen, meint Tony Judt. Gar so kosmopolitisch und kultiviert, wie Zweig das suggeriert, war man gar nicht im Reiche Franz Josephs.

Tony Judt weist auf die Janusköpfigkeit der k.-und-k.-Monarchie hin: eine gewisse Liberalität, schlampig interpretiert, paarte sich mit dem Hang breiter Schichten zu nationalistisch-minderheitenfeindlichen Ressentiments, die durchaus schon ins Mörderisch-Eliminatorische hinüberspielten.

Verhängnisvoller Neoliberalismus

Wenn von der Wiener Moderne die Rede ist, wird gern auf Loos und Wagner, auf Klimt und Schiele, Wittgenstein und Freud verwiesen. Als profunde Kenner der österreichischen Geschichte beschäftigten sich Timothy Snyder und Tony Judt in ihrem Buch auch mit dem Austromarxismus und den international bewunderten sozialpolitischen Innovationen des Roten Wien. Dass Österreichs Arbeiterbewegung eine Zeitlang europaweit beachtete Maßstäbe gesetzt habe, dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, so Tony Judt, dass auch eine der in seinen Augen verhängnisvollen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der marktradikale Neoliberalismus, in Wien entstanden sei.

Mit dem bekannten Ausgang, dass Hayek vorläufig den Sieg davongetragen hat.

Chauvinismus in Israel

Timothy Snyder im Gespräch mit Tony Judt, das ist eine intellektuelle Plauderei auf 400 Seiten, geistreich, unsystematisch, und gerade deshalb von einem gewissen Reiz. Wer sich weltbewegend neue Einsichten erwartet, wird von dem Band allerdings eher enttäuscht sein. "Das Chalet der Erinnerungen", Tony Judts im Vorjahr erschienene Autobiografie, ist das bedeutendere, originellere und bewegendere Buch.

Wie schon im "Chalet der Erinnerungen" beschäftigt sich Tony Judt auch in diesem Band mit seinem ambivalenten Verhältnis zu Israel, jenem Land also, in dem er als Kibbuznik Mitte der 1960er entscheidende Jahre seines Lebens verbracht hat. 1967, im Sechstagekrieg, stand Judt in Diensten der israelischen Armee. Ein einschneidendes Erlebnis.

Zur Kritik verpflichtet

Bis zu seinem Tod im Sommer 2010 hat sich Tony Judt immer wieder als harscher Kritiker der israelischen Außen- und Siedlungspolitik betätigt: ein Engagement, das ihm wütende Angriffe seitens der israelischen Rechten, aber auch von gewissen Vertretern der Jewish Community in den USA eingetragen hat. Judt stand zu seiner Kritik.

Tony Judt war so etwas wie der Prototyp des postideologischen Intellektuellen. Die marxististischen Hoffnungen seines Vaters, eines Trotzkisten im Londoner Exil, hat der bekennende Linksliberale ebenso wenig geteilt wie die revolutionären Illusionen der 68er. Kommunismus und Faschismus haben sich in Judts Augen ebenso als Irrwege erwiesen wie die marktradikalen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte. Was bleibt, ist die Absage an utopische Verheißungen aller Art.

Tony Judt zuzuhören lohnt sich sehr wohl. "Nachdenken über das 20. Jahrhundert": Auch in diesem Buch hält Judt ein Plädoyer für starke, demokratische Verfassungsstaaten, für eine wohlfahrtsstaatlich abgefederte Marktwirtschaft, die seiner Einschätzung nach allein imstande ist, komplexe Massengesellschaften auf humane Weise zu organisieren. Mit anderen Worten: Judts Buch ist ein Plädoyer für die Sozialdemokratie. Schade nur, dass deren realpolitische Repräsentanten in weiten Teilen Europas derzeit ein eher trostloses Bild abgeben.

Service

Tony Judt und Timothy Snyder, "Nachdenken über das 20. Jahrhundert", Hanser-Verlag

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