Timothy Snyderspricht mit Tony Judt
Nachdenken über das 20. Jahrhundert
Im Jahr 2008 erkrankte der renommierte britsch-amerikanische Historiker Tony Judt an amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS genannt, einer unheilbaren Erkrankung des Nervensystems, die nach und nach zu Lähmungen und schlussendlich zum Tod führt. Im Jänner 2009, als klar war, dass Tony Judt nicht mehr schreiben können würde, begann der um 20 Jahre jüngere Historiker Timothy Snyder, ausführliche Gespräche mit Tony Judt zu führen.
8. April 2017, 21:58
Das Ergebnis ist ein Band, der soeben im Hanser-Verlag erschienen ist. Titel: "Nachdenken über das 20. Jahrhundert". Eineinhalb Jahre nach Tony Judts Tod kann man hier nun das politische und geschichtsphilosophische Vermächtnis des bedeutenden New Yorker Historikers nachlesen.
Räsonierende Ausflüge
Gesprächsbände haben - man denke an die platonischen Dialoge - eine lange und alles andere als ruhmlose Tradition in der abendländischen Kulturgeschichte. Insofern bewegen sich Timothy Snyder und Tony Judt auf bestens abgesichertem Terrain, wenn sie die neuere Geschichte Europas und der USA in Form eines 400-seitigen Gesprächs zu evaluieren versuchen.
"Nachdenken über das 20. Jahrhunderts": Der Band ist in neun Kapitel unterteilt, der Aufbau der einzelnen Kapitel ist stets der gleiche: Zunächst berichtet Tony Judt von entscheidenden Abschnitten seiner Biografie, dann unternehmen Snyder/Judt ´in historische und politische Gefilde, die mit dem jeweiligen Kapitel der Judtschen Vita zu tun haben.
Im Falle von Tony Judts Kindheit - er wurde 1948 als Sohn jüdischer Emigranten in London geboren - führt dieser räsonierende Ausflug ohne Umwege zum jüdischen Erbe Osteuropas und in die Habsburger-Monarchie. Beide, Tony Judt wie Timothy Snyder, haben eine Zeitlang in Wien gelebt und geforscht, beide sind exzellente Kenner der österreichischen Geschichte.
Das Wien von Stefan Zweig
Das Wien der Jahrhundertwende ist heute längst von einem nostalgischen Flor umgeben. Viele Kulturhistoriker zitieren Stefan Zweigs "Welt von gestern", wenn sie die Habsburger-Metropole als kosmpolitisches Laboratorium der Moderne heraufbeschwören. Dabei dürfe man Stefan Zweigs melancholischen Rückblick auf das Wien vor 1914 keineswegs wörtlich nehmen, meint Tony Judt. Gar so kosmopolitisch und kultiviert, wie Zweig das suggeriert, war man gar nicht im Reiche Franz Josephs.
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Für Stefan Zweig und seine Zeitgenossen beschränkte sich Habsburg vor dem Ersten Weltkrieg auf die urbanen Oasen des Reichs - Wien, Budapest, Krakau, Czernowitz. Das bäuerliche Ungarn, Kroatien oder Galizien war den damaligen Intellektuellen (wenn sie Juden waren) ebenso fremd wie umgekehrt. Weiter westlich, in Salzburg, Innsbruck, Nieder- und Oberösterreich und Südtirol, waren die Wiener Juden, um nicht zu sagen die Wiener Kultur überhaupt, entweder ein Rätsel oder ein Hassobjekt oder beides. Man muss also vorsichtig sein, wenn man sich von Zweig und anderen Aufschluss über die untergegangene Welt Mitteleuropas erhofft.
Tony Judt weist auf die Janusköpfigkeit der k.-und-k.-Monarchie hin: eine gewisse Liberalität, schlampig interpretiert, paarte sich mit dem Hang breiter Schichten zu nationalistisch-minderheitenfeindlichen Ressentiments, die durchaus schon ins Mörderisch-Eliminatorische hinüberspielten.
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Das Habsburgerreich hatte eine doppelte Identität. Hier begegnete man mehr als anderswo im damaligen Europa unverhohlenen Vorurteilen und chauvinistischen Ressentiments. (...) Gleichzeitig waren Völker und Sprachen und Kulturen eng miteinander verwoben als identitätsstiftende Bestandteile der Monarchie. Hier konnte sich ein Stefan Zweig oder ein Joseph Roth völlig zu Hause fühlen, und von hier wurden sie als Erste verjagt.
Verhängnisvoller Neoliberalismus
Wenn von der Wiener Moderne die Rede ist, wird gern auf Loos und Wagner, auf Klimt und Schiele, Wittgenstein und Freud verwiesen. Als profunde Kenner der österreichischen Geschichte beschäftigten sich Timothy Snyder und Tony Judt in ihrem Buch auch mit dem Austromarxismus und den international bewunderten sozialpolitischen Innovationen des Roten Wien. Dass Österreichs Arbeiterbewegung eine Zeitlang europaweit beachtete Maßstäbe gesetzt habe, dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, so Tony Judt, dass auch eine der in seinen Augen verhängnisvollen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der marktradikale Neoliberalismus, in Wien entstanden sei.
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In Österreich finden wir auch die Ursprünge jener wirtschaftswissenschaftlichen Schule, die sich deutlich gegen Keynes richtet, sie ist mit den Namen Ludwig von Mises, Joseph Schumpeter und Friedrich Hayek verbunden. Das Dreivierteljahrhundert, das dem Zusammenbruch Österreichs in den 1930ern folgte, kann man als Duell zwischen Keynes und Hayek betrachten.
Mit dem bekannten Ausgang, dass Hayek vorläufig den Sieg davongetragen hat.
Chauvinismus in Israel
Timothy Snyder im Gespräch mit Tony Judt, das ist eine intellektuelle Plauderei auf 400 Seiten, geistreich, unsystematisch, und gerade deshalb von einem gewissen Reiz. Wer sich weltbewegend neue Einsichten erwartet, wird von dem Band allerdings eher enttäuscht sein. "Das Chalet der Erinnerungen", Tony Judts im Vorjahr erschienene Autobiografie, ist das bedeutendere, originellere und bewegendere Buch.
Wie schon im "Chalet der Erinnerungen" beschäftigt sich Tony Judt auch in diesem Band mit seinem ambivalenten Verhältnis zu Israel, jenem Land also, in dem er als Kibbuznik Mitte der 1960er entscheidende Jahre seines Lebens verbracht hat. 1967, im Sechstagekrieg, stand Judt in Diensten der israelischen Armee. Ein einschneidendes Erlebnis.
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Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass Israel kein sozialdemokratisches Paradies friedliebender, Landwirtschaft treibender Juden war. Ich begegnete einer Kultur und Menschen, die ganz anders waren als das, was ich gelernt oder mir eingeredet hatte. (...) Zum ersten Mal kam ich mit Israelis zusammen, die absolute Chauvinisten waren: die, von geradezu rassistischem Araberhass, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Araber töten würden.
Zur Kritik verpflichtet
Bis zu seinem Tod im Sommer 2010 hat sich Tony Judt immer wieder als harscher Kritiker der israelischen Außen- und Siedlungspolitik betätigt: ein Engagement, das ihm wütende Angriffe seitens der israelischen Rechten, aber auch von gewissen Vertretern der Jewish Community in den USA eingetragen hat. Judt stand zu seiner Kritik.
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Ich bin der Ansicht, dass ich als Jude die Pflicht habe, Israel zu kritisieren, und zwar so rigoros, wie Nichtjuden das nicht können.
Tony Judt war so etwas wie der Prototyp des postideologischen Intellektuellen. Die marxististischen Hoffnungen seines Vaters, eines Trotzkisten im Londoner Exil, hat der bekennende Linksliberale ebenso wenig geteilt wie die revolutionären Illusionen der 68er. Kommunismus und Faschismus haben sich in Judts Augen ebenso als Irrwege erwiesen wie die marktradikalen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte. Was bleibt, ist die Absage an utopische Verheißungen aller Art.
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Für uns Intellektuelle oder politische Philosophen kommt es nicht darauf an, bessere Welten zu entwerfen, sondern zu überlegen, wie schlechtere Welten verhindert werden können. Der Intellektuelle, der grandiose Bilder von idealisierten, verbesserungsfähigen Situationen entwirft, ist nicht unbedingt derjenige, dem zuzuhören besonders lohnend wäre.
Tony Judt zuzuhören lohnt sich sehr wohl. "Nachdenken über das 20. Jahrhundert": Auch in diesem Buch hält Judt ein Plädoyer für starke, demokratische Verfassungsstaaten, für eine wohlfahrtsstaatlich abgefederte Marktwirtschaft, die seiner Einschätzung nach allein imstande ist, komplexe Massengesellschaften auf humane Weise zu organisieren. Mit anderen Worten: Judts Buch ist ein Plädoyer für die Sozialdemokratie. Schade nur, dass deren realpolitische Repräsentanten in weiten Teilen Europas derzeit ein eher trostloses Bild abgeben.
Service
Tony Judt und Timothy Snyder, "Nachdenken über das 20. Jahrhundert", Hanser-Verlag
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