Jugenderinnerungen von Erri De Luca

Montedidio

"Schreiben heißt für mich Gesellschaft haben", sagt Erri De Luca "Wenn ich das Buch eines anderen lese, dann muss es mir Gesellschaft leisten können. Im Autobus, am Ende eines Arbeitstages muss mich dieses Buch alles vergessen lassen, was an jenem Tag passiert ist, das ganze Gewicht auf meinen Schultern."

So lauten die Anforderungen, die Erri De Luca an ein gelungenes Buch stellt. "Erri De Luca ist der einzige wahre und bedeutende Schriftsteller, den Italien bis dato im 21. Jahrhundert hervorbrachte", urteilt der "Corriere della Sera" in einer Evaluierung der literarischen Produktion der Apenninenhalbinsel. In Frankreich ist Erri De Luca mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden.

Peter Handke und Alfred Kolleritsch würdigten den Italiener mit dem Petrarca-Preis, was ihm auch im deutschen Sprachraum eine Präsenz in den Qualitätsmedien sicherte. Leider ist bisher nur ein kleiner Teil der Bücher von Erri De Luca ins Deutsche übersetzt worden.

Wasser zwischen den Felsen

"Schreiben bedeutet für mich, mit der Erinnerung zusammen sein", sagt De Luca. "Es ist, als ob ich dem Leben eine zweite Chance gäbe. Ich kann das Leben nicht ändern, aber durch das Schreiben wird das neuerliche Aufeinandertreffen von Personen noch intensiver. Ihr ganzer Austausch wird auf das Wesentliche reduziert. Das Bild, das ich dazu habe, ist jenes vom Wasser zwischen den Felsen. Das Wasser verdunstet und es bleibt nur das Weiß des Salzes. Das ist für mich Schreiben: der bleibende Rest des verdunsteten Lebens."

Er schreibt seine Bücher zuerst mit der Füllfeder in einem Heft. Auf diese Weise stellt er sicher, dass Hirn und Hand synchron laufen. Schon der erste Roman, den er als 40-Jähriger veröffentlicht, ist eine Erinnerung an das Neapel seiner Kindheit.

Auch im Roman "Montedidio" variiert Erri De Luca eine Erinnerung an Neapel. Dort bekam er einen Bumerang geschenkt. Das Wurfgerät wirkte absurd in dem dicht bebauten Viertel mitten in der Stadt. Erri De Luca verwendete den Bumerang als Kind nicht, doch in der Literatur dient er ihm als Symbol für das Erwachsenwerden. Er lässt den Bumerang erst im furiosen Finale in der Neujahrsnacht über das Häusermeer von Montedidio fliegen.

"An jedem anderen Ort wäre aus einer solchen Geschichte ein Bildungsroman geworden", meint De Luca. "Aber in Neapel ist es eine Geschichte des Widerstands gegen die Deformierung. In dieser Zeit gab es in Neapel keinen Gärtner, der junge Menschen durch Bildung zurechtgeschnitten hätte. Doch es gab eine Kraft, die der Deformierung Widerstand leistete. Die Lebensgeschichten, die ich erzähle, handeln nicht von gepflanzten Bäume, sondern von Sträuchern, die im Boden Wurzeln schlagen."

Die Fälscherzentrale

Erri De Lucas Romane berichten von Kindern, die mit fünf Jahren zu arbeiten beginnen und mit zwanzig schon ausgebildete Facharbeiter sind. Noch immer gibt es in Neapel viel kunstvolles Handwerk. Tischler, Schuster, Uhrmacher und Schneider werken im Viertel Monte di Dio. Einer der Handlungsstränge im Roman ist die Geschichte eines buckligen Schusters, der davon träumt, nach Jerusalem auszuwandern.

"Der Name Monte Di Dio ist eine Anmaßung", so De Luca. "Es gibt keinen Berg Gottes in Neapel, nur einen in Jerusalem. Neapel maßt sich diesen Namen an. Dazu passt, dass Monte di Dio ein Stadtviertel ist, in dem sehr viele Markenartikel gefälscht werden. Ich weiß von Fällen, in denen eine in Neapel gekaufte Cartier-Uhr an die Mutterfirma in Frankreich geschickt wurde, weil der Käufer sie reparieren lassen wollte. In Frankreich erkannte man, dass es sich um eine Fälschung handelte, die aber besser gefertigt war als ein Original!"

Der 1950 geborene Erri De Luca verließ Neapel als 18-Jähriger. Und doch bezeichnet er sich als Neapolitaner durch und durch. De Luca kappte sämtliche Verbindungen zur Welt seines Aufwachsens und schloss sich den Revolutionären auf der Straße an. In der außerparlamentarischen kommunistischen Bewegung "Lotta Continua" - Ständiger Kampf - fand er eine neue Heimat.

"Wir teilten alles", erinnert sich De Luca. "Nicht nur die Güter, sondern jeden einzelnen Tag, alles, was Tag für Tag zu tun war. Es war ein perfekter Gleichklang, ein Misstrauen allen Autoritäten gegenüber, auch gegenüber der Autorität innerhalb unserer Gemeinschaft. Wir teilten zu gleichen Teilen, was wir hatten und was wir sammelten."

Kampf bei Fiat

"Ein harter Kampf ohne Furcht, für die Revolution. Es kann keinen wirklichen Frieden geben, solange ein Herr lebt." Das sagt der Text des Liedes "Lotta Continua" aus dem Liederbuch des Proletariats. Erri De Luca war zwei Jahrzehnte lang als Arbeiter in verschiedenen Stellungen tätig. Er verdingte sich als Lastwagenfahrer und Maurer, am Bau und als Lagerarbeiter. Das Ende der Zugehörigkeit zu Lotta Continua brachte ein Job in der Città Fabrica, der Stadt-Fabrik Turin.

"1980 war ich seit vier Jahren Arbeiter bei Fiat in Turin", erzählt De Luca. "In jenem Herbst beschloss Fiat, die Schlacht gegen die Fabrikarbeiter zu gewinnen. 20.000 Arbeiter wurden aus den Fabriken in Turin vertrieben. Ich nahm am letzten dieser Kämpfe teil. 37 Tage und 37 Nächte blockierten wir die Fabrik. Am Ende dieses Widerstandskampfes sind wir hinausgegangen und damit löste sich für mich die Gemeinschaft auf, der ich angehört hatte."

Auf der Suche nach Gesellschaft stieß der Autor auf die Bibel. In den 1980er Jahren begann Erri De Luca Althebräisch zu lernen, um die Bibel jeden Tag im Original lesen und ihre Wortbedeutungen erforschen zu können.

"Ich bin nicht-gläubig", sagt er. "Ich unterscheide zwischen nicht-gläubig und atheistisch. Nicht-gläubig ist jemand wie ich, der jeden Tag aufs Neue nicht glaubt, während ein Atheist das Problem ein für alle Mal gelöst hat. Ein Nichtgläubiger wie ich schließt die Göttlichkeit aus seinem Leben aus, nicht aber aus dem Leben der anderen. Ich bin also ein nicht-gläubiger Leser dieser Seiten."

Dorthin gehen, wo man ihn braucht

Während des Jugoslawien-Krieges fuhr Erri De Luca als Lastwagenfahrer nach Bosnien, um im Konvoi Hilfslieferungen zur Bevölkerung zu bringen. Dieses Engagement zeigt den Autor als Bürger. Er will dorthin gehen, wo man ihn braucht, sagt Erri De Luca. Deshalb bringt er seine öffentlichkeitswirksame Präsenz auch immer wieder in Veranstaltungen zur Unterstützung der Roma in Italien ein.

"Italien wurde mehrmals von der Europäischen Gemeinschaft verurteilt für seine Eingriffe in die Nomaden-Lager", sagt De Luca. "Diese Eingriffe geschehen ausschließlich aus Wahlkalkül: Sie zeigen, dass sie die Roma wegschicken. Doch die Roma sind unauslöschlich. Wenn ein Lager geräumt wird, dann gehen sie woanders hin. Es ist, wie wenn Wasser in einem Mörser umgerührt wird. Aber es geht auf die Kosten des Lebens jener Menschen, die keinen Schutz haben, auch wenn sie heute europäische Bürger sind. Unter den vielen Grässlichkeiten, die mein Land macht, wird auch diese zur Aufgabe für einen Staatsbürger."

Service

Erri De Luca, "Montedidio", aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki, Graf Verlag

Graf Verlag - Montedidio