Geschichte eines Inquisitionsprozesses
Die Nonnen von Sant'Ambrogio
Der renommierte deutsche Kirchenhistoriker und Leibniz-Preisträger Hubert Wolf hat 13 Jahre lang an einem Buch geschrieben und aus vatikanischen Geheimarchiven Erschreckendes ans Tageslicht gebracht.
8. April 2017, 21:58
Im 1998 von Papst Johannes Paul II. geöffneten Geheimarchiv in Rom sucht und findet Wolf Akten zu einem Inquisitionsprozess, der von 1859 bis 1862 geführt wurde: Anklage u. a. wegen sexuellem Missbrauch und falscher Heiligenverehrung, die vor 150 Jahren im Kloster Sant'Ambrogio stattgefunden haben, zwei Kilometer Luftlinie vom Vatikan entfernt.
Hinter Klostermauern
Scheinheiligkeit ist wohl das gleichzeitig höflichste und treffendste Wort für die Geschichte der Nonnen von Sant'Ambrogio. Würde auf dem Buchumschlag nicht C. H. Beck Verlag und der Name Hubert Wolf stehen, würde man vermuten, es sei keine wahre Geschichte. Der Kirchenhistoriker schildert - ohne sich dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen -, welche abartigen Bräuche und Riten vor 150 Jahren hinter den Klostermauern nahe dem Vatikan zelebriert wurden. Neben einer Nonne, die sich als Heilige verehren ließ, und Novizinnen und Beichtvätern, die ihr zu Füßen lagen, ist Doppelmoral die Hauptdarstellerin dieser Geschichte.
Den Klosterskandal ans Licht bringt die Anklage der deutschen Adeligen Katharina von Hohenzollern-Sigmaringen, die nach auf sie verübten Giftanschlägen aus dem Kloster fliehen kann. Folgende Anklagepunkte im beginnenden Inquisitionsprozess berichtet der Dominikanerpater Vincenzo Sallua, der die Vernehmungen führte.
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Erstens: Die Nonnen hatten die verurteilte Agnese Firraro fortdauernd als Heilige verehrt.
Zweitens: die 27-jährige Maria Luisa hatte sich ebenfalls Heiligkeit angemaßt.
Drittens: Die Novizinnen hatten mit der Novizenmeisterin unehrenhafte Akte, unerlaubte Zärtlichkeiten und Küsse ausgetauscht; in der Nacht vor der Einkleidung war es zu lesbischen Initiationsriten gekommen; die Frauen hätten sich außerdem der körperlichen Liebe bis hin zum Geschlechtsverkehr hingegeben, und das alles unter Vorspiegelung himmlischer "Heiligung".
Viertens: Auf das Leben der Prinzessin Hohenzollern waren Mord- und Vergiftungsanschläge verübt worden.
Klingt nach kirchenfeindlichen Klischees oder Fiktion, ist es aber nicht.
Nonne als Heilige verehrt
Hubert Wolf belegt seine über 400 Seiten lange Erzählung mit Briefen, Dokumenten, Vernehmungs- und Verhörprotokollen aus dem römisch-katholischen Gerichtsverfahren, und mit Quellen aus Gutachten, Kirchenrecht und Literatur. Gefunden hat Hubert Wolf die Unterlagen in einer Archiv-Abteilung, in der man sie nicht vermutet hätte: Die Akten schlummerten über 100 Jahre lang im geheimsten Kirchenarchiv, im erst 1998 geöffneten Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre der katholischen Kirche.
Hauptangeklagte des Inquistionsprozesses war die junge Nonne Maria Luisa, die sich als Heilige verehren ließ, vorgab, in inniger Verbindung zur Gottesmutter zu stehen, Ekstasen vorspielte und Zungenküsse als außerordentliche Segnungen einführte. Eine ihr ergebene Nonne lässt sie die angeblichen Briefe der Gottesmutter schreiben, die Maria Luisa als "auserwählte Tochter der Gottesmutter" darstellen.
Sexuelle Spielchen
Hubert Wolf spart nicht an Stellen, an denen Novizinnen - beim Inquisitionsprozess - explizit schildern, wie sie dazu angehalten wurden, Maria Luisa sexuell zu befriedigen. Teufelsaustreibung, außergewöhnliche Segnung oder eine Anweisung der Mutter Gottes – das sind ihre scheinheiligen Vorwände für sexuelle Spielchen mit Novizinnen und sexuellen Missbrauch. Auch der Beichtvater Peters hat Maria Luisa und den Aufforderungen in den Gottesmutter-Briefen gehorcht.
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Immer wieder ging es um körperliche Nähe und die Segnungen dieser Erotik. Immer wieder wurde der Beichtvater zu dieser "außerordentlichen Kommunion" schriftlich gedrängt. Es kam aber noch zu einer Verschärfung: Die Gottesmutter kündigte an, der Teufel werde Maria Luisas Gestalt annehmen und schlimme Dinge tun, um ihrer Lieblingstochter auf diese Weise zu schaden. Dies wurde aber zugleich als gottgewollte Prüfung der "reinen Seele" ausgegeben.
Dass Beichtvater Peters in Wahrheit Joseph Kleutgen ist, ein gebildeter Jesuitentheologe und Berater von Papst Pius IX., erfährt der Leser erst während seines Verhörs beim Inquisitionsprozesses, die Nähe zum Vatikan erklärt vermutlich auch, warum Kleutgen beim Prozess mit einem blauen Auge davon kommt. Auch Maria Luisa ist beim Verhör geständig, spricht auch über ihre traumatisierende Jugend: Als sie mit 13 Jahren in das Kloster eintrat, wurde auch sie von der Äbtissin zu sexuellen Handlungen genötigt.
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Sexuelle Beziehungen unter Mönchen und Nonnen sowie zu Beichtvätern und Beichtkindern zählten im 19. Jahrhundert zu den gängigen Topoi der antiklerikalen Literatur, die einen Zusammenhang zwischen zölibatärer Lebensweise, religiösem Wahn und devianter Sexualität behauptet. Inwieweit diese Klischees eine reale Basis hatten, ist angesichts der schwierigen Quellenlage kaum zu klären. Bei den Vorgängen in Sant'Ambrogio handelte es sich aber in heutiger Terminologie um sexuellen Missbrauch, der ganz allgemein ein Machtgefälle zur Voraussetzung hat.
Historische Fakten
Geschickt eingeflochten sind die historischen Exkurse von Hubert Wolf: über die römisch-katholische Kirche, verschiedene Verfahrensabläufe der Inquisition, Erzählungen über die Gründerin des Klosters, über Reliquien, den Kult der Heiligen und über das marianische Jahrhundert: die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt als Zeitalter der Feminisierung, in dem Marienerscheinungen zahlenmäßig einen Höhepunkt erreicht hatten und Visionen der Gottesmutter als wahrscheinlicher galten als zuvor.
Hubert Wolfs akribische Recherche "Die Nonnen von Sant'Ambrogio" liefert ein wahrlich grausames Sittenbild einer Welt hinter Klostermauern, der offenbar nur wenig heilig war. Eine Stellungname des Vatikans dazu gibt es bis dato nicht.
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Hubert Wolf, "Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte", C. H. Beck Verlag
C. H. Beck - Die Nonnen von Sant'Ambrogio