Von der "Fiktionalisierung" der Waren
Alles nur Konsum
In der hoch entwickelten Wohlstandsgesellschaft geht es beim Konsumieren nicht mehr vorrangig um den Gebrauchswert der Waren, sie sollen vielmehr Phantasien befriedigen, Gefühle auslösen, den Alltag überhöhen. Das neue Buch des Kunst- und Medienwissenschaftlers Wolfgang Ullrich handelt von Wert und Wesen des Produktdesigns.
8. April 2017, 21:58
Der Bart gehört gestutzt
Manche unserer Überzeugungen haben einen ziemlich langen Bart. Als ehrwürdige Bedenkenträger heben sie aus alter Gewohnheit den moralischen Zeigefinger auch dort, wo wir ihnen schon nicht mehr recht trauen können. Eine dieser alten Überzeugungen ist die unhinterfragte Verdammung des bösen Konsums. Die Auffassung, dass die Werbung lüge, dass Marketing falsche Wünsche anreize, und uns im Kreislauf der süchtig machenden Ersatzbefriedigung und einer sinnlos schädlichen Warenflut ertränke.
Diesem wohlfeilen Denkmuster will Wolfgang Ullrich gehörig am Bart zupfen. Um nicht gar zu sagen, er findet: Der Bart der alten Konsumkritik muss endlich ab. Der elitäre und zutiefst bürgerliche Dünkel gegen schnelle Billigware und Massenproduktion hat, so meint er, nicht verstanden, wie Konsum heute funktioniert. Der Gegensatz vom wahren Wert und lügenhaftem Werbeschein ist längst obsolet geworden. Ullrichs grundlegende These lautet: Konsumgüter sind Medien, sie transportieren Botschaften, und diese Botschaften zu entschlüsseln ist eine Kulturtechnik wie das Lesen.
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Die Wahl der jeweils richtigen Pfeffermühle ist genauso ein Ausweis von Geschmack und Urteilskraft wie die Entscheidung für die Lektüre eines bestimmten Buchs. Und so entpuppt sich mancher Konsumkritiker als ähnlich banausisch wie jemand, der wenig liest und sich in einer Bibliothek darüber mokiert, dass so viel geschrieben wird, ja sich schwer dabei tut, für sich selbst etwas Passendes zu finden. Abwehr und Ressentiment sind also jeweils Folge einer Überforderung: Ausdruck ungenügender Ausbildung im Umgang mit einem Zeichensystem.
Konsumgüter wie Kunstobjekte
Ullrich erinnert daran, dass auch Romane einmal als etwas Anrüchiges galten, und er hält es nicht für ausgeschlossen, dass man in Zukunft auf die Konsumkritiker genauso befremdet zurückschauen wird, wie auf die ehemaligen Verächter des Romans. Je mehr wir lernen, mit den Produkten und den sie begleitenden Phantasien gut umzugehen, desto besser können wir mit ihren Formen spielen, eine Kennerschaft, gar Kunstfertigkeit im Genuss entwickeln.
Ullrichs Buch ist provokant, weil es Konsumgüter wie Kunstobjekte, Produktdesigner wie Künstler und Konsumenten wie Kunstliebhaber behandelt. Doch gleichzeitig ist der Ansatz sehr produktiv für die genaue Analyse einzelner Waren. Wirklichen Spaß bei der Lektüre machen daher auch die ausführlichen und liebevoll detaillierten Beschreibungen profanster Alltagsprodukte.
Bei Mineralwasser zum Beispiel fällt Ullrich auf, dass es derzeit immer edler und sogar eher als alkoholisches Getränk stilisiert wird. Das verändert auch unsere Verhaltensweisen.
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Wer Wasser wie Wein oder Whiskey erlebt, wird kaum umhinkommen, Rituale der Kennerschaft zu entwickeln. Plötzlich gehört es in bestimmten Milieus zum guten Ton, zwischen verschiedenen Mineralwassermarken zu unterscheiden. (...) In einem Sternelokal bekommt man gar einen Wasser-Sommelier an die Seite gestellt, in einem teuren Hotel findet man eine Wasserbar, während in Lifestyle-Magazinen Tipps gegeben werden, welche Wassersorten in keiner guten Sammlung fehlen sollten.
Multisensory enhancement
In der halb ironischen, halb ernsthaften Betrachtung wird klar, wie komplex Produkte designt sind. Wie jedes Detail sitzt, von der Form der Flasche, ihrer Farbe, der Griffigkeit des Materials, der Aufschrift bis zum Plopp der Verschlussöffnung. "Multisensory enhancement" heißt die Einbeziehung aller Sinne ins Produkterlebnis.
Ullrich lässt die Produktbeschreibungen unter der Hand auch zu kleinen Gesellschaftsanalysen werden. Zudem gibt er Einblick in diverse Strategien des Marketing, und er zeigt, wie Dinge unsere Erlebniswelt prägen, wie sie Verhalten bestimmen, wie sie das Leben ordnen, wie sie uns erziehen.
Aus dieser Perspektive ist kein Duschgel harmlos, und interessant ist Ullrichs These, dass wir uns zu Konsumprodukten ähnlich verhalten wie zu Objekten traditionellen Aberglaubens.
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Warum sollte man in der Konsumwelt nicht insgesamt eine neue Version einer herkömmlichen Aberglaubenswelt erblicken? Sind nicht alle Gesellschaften darauf angewiesen, Orte für Hoffnungen und Wünsche zu haben, die die Menschen sich aus eigener Kraft nicht erfüllen können? (...) Statt anzunehmen, dass der Aberglaube nach und nach verschwunden ist und die Welt entzaubert wurde, sollte man also eher von einem Wandel der Objekte und Formen abergläubischer Handlungen ausgehen. Worauf ehedem ein Hufeisen hoffen ließ, das verspricht zurzeit dem einen ein Joghurt, dem anderen ein Speiseeis, ein Shampoo oder eine Kaffeesorte.
Solche spirituelle Aufladung sieht Ullrich nicht mit Besorgnis, im Gegenteil. Der Aberglaube ist tolerant und polytheistisch veranlagt, er glaubt nicht wirklich ernsthaft an seine Objekte und ist daher viel weniger erschreckend als monotheistisch-rigide Glaubensordnungen.
Misstrauen gegen Moral
Was wird aber aus der Konsumkritik? Ganz positiv bleibt Wolfgang Ullrich nicht. Er gibt zu bedenken, dass die Metaphern, mit denen die Marketingstrategen arbeiten, eine moralische Dimension haben; so könnte der ganze Werbe-Hype um "Kraft, Leistungsstärke und Energie" die Burnout-Syndrome mitproduzieren.
Auf Ullrichs Kritikliste stehen auch die sogenannten LOHAS, eine wohlhabende Mittelschicht, die sich dem guten, umweltfreundlichen Konsum verschrieben hat. Ihnen glaubt Ullrich kein Wort. Das "Schuld und Sühne"-Abkommen mit der Natur produziere nur Arroganz und Ressentiment gegenüber ärmeren Schichten, die sich den nachhaltigen Konsum nicht leisten können.
Überhaupt misstraut Ullrich dem wertegeleiteten Marketing und einem Kapitalismus, der sich statt des Profitstrebens auf Moral festlegen will. Wenn Unternehmer mehr sein wollen als bloße Kapitalisten, wird Konsum zur Ideologiemaschine, fürchtet er.
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Künftig könnten es Unternehmen sein, die maßgeblich zur Meinungsbildung beitragen und für öffentliche Debatten sorgen. Sie sind vermutlich sogar wichtiger als die klassischen Medien, wenn es darum geht, ungewöhnliche Plots zu ermöglichen, Ideen in den Alltag - und die Handlungsabläufe - zu implementieren und Wege vom Wissen zum Handeln zu bahnen. Damit werden Imageredakteure viel Macht haben, und Imagechefredakteur einer großen Marke zu werden wird das Ziel ehrgeiziger Intellektueller sein. (...) Eine künftige Diktatur wird mit Imageredakteuren und Produktdesignern errichtet werden.
Der Bart ist noch lange nicht ab
Letztlich bleibt Wolfgang Ullrich ein Postmoderner durch und durch. Er plädiert für barocke Vielfalt, den Kitsch, die Ironie. Moral ist ihm suspekt. Seine Hoffnung gilt der Ausdifferenzierung, dem spielerisch kenntnisreichen Umgang mit Konsum, der nach und nach eine Verfeinerung der Sitten und intelligenteres Marketing zur Folge haben werde.
Doch genau hier liegt das Manko des kenntnisreichen und kurzweiligen Buches: Ullrich lässt sich nicht wirklich in die Karten schauen. Im antibürgerlichen Affekt gefällt er sich darin, den Spieß immer wieder umzudrehen. Den vorgeblich bösen, ideologischen Konsum als harmloses Spiel, und den angeblich guten wertgeleiteten Konsum als eigentlich ideologisch zu markieren. Doch wo seine Wahrheit liegt, verrät er nicht. Und dass man an der Übermacht allgegenwärtiger Produktexzesse auch verzweifeln kann, lässt er - schon aus Prinzip - nicht gelten. Sicher, der alte Bart der Konsumkritik gehört gestutzt, aber ganz ab muss er noch lange nicht.
Service
Wolfgang Ullrich, "Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung", Wagenbach-Verlag
Wagenbach Verlag