Nuccio Pepe und David Vyssoki

Der Zweifel

Eine Freundschaft entsteht in einem Zug, der Venedig um Mitternacht verlässt und in Wien in den frühen Morgenstunden ankommt.

Eine ganze Nacht, verbracht mit Gesprächen über Politik, Musik und Bücher verknüpft den Lebensweg des sizilianischen Autors Nuccio Pepe mit jenem von David Vyssoki, des Gründers des Psychosozialen Zentrums der Jüdischen Gemeinde in Wien.

Einige Jahrzehnte später wird David Vyssoki zum Impulsgeber für Nuccio Pepes Buch "Der Zweifel". Während eines Spaziergangs durch die Straßen von Wien erzählt der Arzt seinem italienischen Freund von der Entdeckung des jüdischen Archivs im 15. Bezirk in Wien.

Dieser Fund führt den Leser und die Handlung von "Der Zweifel" in ein Haus in der Herklotzgasse 21, nahe beim Gumpendorfer Gürtel. Das Gebäude war eine private Stiftung für die jüdische Gemeinde Wien bis zu deren Vertreibung 1938.

1952 wurde die Herzklotzgasse 21 an die Israelitische Kultusgemeinde zurückerstattet. Erst fünfzig Jahre später wurden in einem Erdgeschoßraum Akten entdeckt, die den Kernbestand des Archivs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ausmachen. Durch den sensationellen Fund an Dokumenten zählt das Archiv der IKG Wien zu den bedeutendsten und besterhaltenen Archiven der großen jüdischen Gemeinden Europas.

Suche nach Zeugnissen

David Vyssoki wird zum Protagonisten des Buches "Der Zweifel", weil er in diesem Archiv Entdeckungen über seine eigene Familiengeschichte machte. David Vyssoki ist ein Überlebender, den die Suche nach Zeugnissen zum Leben seiner Eltern, die er nicht kannte, quälend umhertreibt.

Zuerst ist es die Stadt Wien, sind es die Häuser, die Gebäude selbst, die Steine und die Mauern, die von dem Arzt nach der Geschichte seiner verstorbenen Eltern befragt werden. Er schreitet die Hauswände der Geibelgasse ab, dort, wo die Eltern vor der Deportation gewohnt hatten, gleichsam, als wolle der Sohn in einen Dialog mit den Mauern treten.

Zahlreiche Reisen führen David Vyssoki nach Czernowitz, in seine Geburtsstadt, sie sollen Aufklärung über das Leben und das Schicksal der Eltern bringen, und doch zeigen sie nur die grässliche Armut in der weit im Osten gelegenen Stadt und sie veranlassen den Wiener dazu, Waisenhäuser finanziell zu unterstützen.

Geheimes Archiv entdeckt

Das Wissen um das Schicksal der eigenen Familie verändert sich für die Hauptperson in "Der Zweifel" ganz plötzlich durch das Auftauchen der Archivalien in der Herklotzgasse 21. Es sind Schachteln in allen Größen, voll mit Blättern, Fotos und Dokumenten. Dingliche Quellen wie Menorahs und Kippas, Leuchter und Kopfbedeckungen, Thora-Rollen, Tallits, die rituellen Gebetsmäntel der Rabbiner, und Mesusot, Schriftkapseln für die Thora-Rollen.

Nuccio Pepe erzählt die wundersame Geschichte, wie die Zeugnisse des jüdischen Lebens hinter einer Mauer verborgen, erst nach dem Tod eines Hüters des geheimen Archivs zum Vorschein kamen. Nuccio Pepe erzählt auch, wie er selbst im Archiv mit der traurigen Geschichte in Berührung kommt, und wie sein Freund David Vissoky dort immer mehr über seine Familie erfährt.

Die Bedeutung von Erinnerung

"Der Zweifel" kann als eine Parabel gelesen werden, die um die Frage kreist, welche Bedeutung es eigentlich hat, die eigene Familiengeschichte genau zu kennen. "Der Zweifel" ist ein notwendiges Buch. Längst sind in die Häuser rund um die Herklotzgasse neue Familien eingezogen, neue Generationen. "Der Zweifel" ist ein Buch gegen das Vergessen. Es erzählt von den grauenhaften Krematorien und Gaskammern, trägt dadurch bei zu einer respektvollen Erinnerungskultur.

Viele sind der Meinung, dass die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur und des Terrors allenfalls für Historiker von Bedeutung sind und keine Relevanz für unsere heutige Gesellschaft haben. Das stimmt gewiss nicht. Nuccio Pepe befasst seine Leser mit der Bedeutung von Erinnerung und Erinnerungsorten, wie etwa dem Konzentrationslager Dachau. Diese Orte werden durch Umgestaltung im Laufe der Jahrzehnte verändert, daher gilt es immer wieder, an die Quellen zurückzugehen.

Verschränkt wird die Geschichte von Nathan, alias David Vissoky, mit jener der Entdeckung des Archivs und davon, was die Funde in der Gemeinschaft auslösen. Es geht sowohl um die Seite der Opfer als auch um die Täter, wenn den Taten eines Hans Heder aus Schärding im Konzentrationslager Dachau anhand der Dokumente nachgeforscht wird.

Dramatisch und berührend

Den spektakulärsten Fund in der Herklotzgasse 21 bedeutet die Entdeckung eines vollständigen Exemplars sämtlicher Deportationslisten mit den Namen von über 48.000 Jüdinnen und Juden, die von Wien aus in die Konzentrationslager transportiert worden sind. Ein weiterer bedeutsamer Fund war der Kataster, den die Auswanderungsabteilung der IKG Wien in den Jahren 1938/39 angelegt hat. Diese Auswanderungskartei enthält Informationen zu rund 119.000 jüdischen Menschen, die 1938 in Wien gelebt hatten.

Die Erinnerung kocht hoch. Nathan-Davids Mutter entstellte sich als sie schwanger war. Sie verunstaltete ihr schönes Gesicht mit Schnitten, um sich der täglichen Gewalt zu entziehen. Ein entstelltes Gesicht würde den Blick eines verrohten Lageraufsehers nicht anziehen. Und so war es auch.

Es werden jedoch auch positive Momente während der Diktatur reflektiert, Akte der Menschlichkeit, Handlungen der Solidarität, die ein schützendes Netz um die Schwangere spannten. Viele verzichteten auf das trockene Brot, das ihnen zugewiesen wurde, um die Schwangere zu nähren.

Dramatisch und berührend ist eine Szene in "Der Zweifel", in welcher Nathan/David nach einigen Recherchen eine Frau in Wien findet, die seine Mutter kannte. Die Leidensgefährtin seiner Mutter lebt in der Linzerstraße und entpuppt sich als Augenzeugin der letzten Lebensmomente der Mutter.

Speicher des kollektiven Gedächtnisses

Aus dem Bericht des Sizilianers Nuccio Pepe ist vieles über das jüdische Leben in Wien zu erfahren, mitfühlendes Verständnis geht daraus hervor, Wärme und die Erkenntnis, dass ein wenig Distanz oft zu tieferem Wissen führen kann.

Historiker und Kulturwissenschaftlerinnen, wie zum Beispiel Aleida Assmann, werden nicht müde, die Bedeutung der Archive als Speicher des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft zu betonen. Diese Überlegungen werden im akademischen Bereich heftig diskutiert. Nuccio Pepe bringt mit "Der Zweifel" die Archive, Orte der Wissenschaften und der Experten, in Berührung mit dem täglichen Leben und mit der Essenz der individuellen und persönlichen Geschichten. Ein gelungenes Unterfangen!

Service

Nuccio Pepe, "Der Zweifel", mit einem Nachwort von David Vyssoki, Metroverlag 2013