Gespräch mit Autorin Swetlana Alexijewitsch

Sie gilt als wichtigste intellektuelle Stimme Weißrusslands: Seit über 30 Jahren arbeitet Swetlana Alexijewitsch an einer "Chronik des Roten Imperiums". Im Oktober wird sie bei der Frankfurter Buchmesse mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet und gestern Abend präsentierte sie beim "Internationalen Literaturfestival" in Berlin ihr neues Buch, "Secondhand-Zeit".

Sowjetisches Denkmal

EPA/DORU

Kulturjournal, 11.09.2013

Kristina Pfoser: Frau Alexijewtisch, im Juni ist bekannt geworden, dass Sie heuer den Friedenspreis bekommen werden - wie waren da die Reaktionen in Ihrer Heimat?

Swetlana Alexijewitsch: Also meine Freunde und die Diktaturgegner, die haben positiv auf diese Nachricht reagiert, aber von offizieller Seite gab´s natürlich keine Gratulationen. Dafür ist meine Website blockiert - seit dem Zeitpunkt, als der Friedenspreis bekannt gegeben wurde. In der ganzen Welt kann man meine Website besuchen, nur in Belarus nicht. Aber die Auszeichnung ist eine große Anerkennung - nicht nur für mich, sondern auch für alle unsere Widerstandkämpfer und für jene, die bei uns im Gefängnis sitzen. Die Diktatur ist frech und stark und jede Unterstützung ist willkommen.

Geehrt wird eine Autorin, die - so steht es in der Begründung - „die Lebenswelten ihrer Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nachzeichnet und in Demut und Großzügigkeit deren Leid und deren Leidenschaften Ausdruck verleiht“. - Russland, Weißrussland und die Ukraine - das sind heute drei verschiedene Staaten - wie ist das mit den gemeinsamen Lebenswelten.

Ja, das sind drei unterschiedliche Länder, aber sie sind von einem Menschentypus bevölkert: Von jenen, die vor kurzem noch Sowjet-Menschen gewesen sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Schwierigkeiten haben mit der Freiheit, sie haben nicht gelernt Freiheit zu leben oder auch nur wahrzunehmen. Russland, die Ukraine, Belarus - überall sind autoritäre Regime an der Macht - das ist das Erbe der Sowjetunion.

Darüber schreiben Sie ja auch in Ihrem jüngsten Buch, über das „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, über das Ende des Roten Menschen. „Second Hand Zeit“ heißt dieses Buch - warum?

In den 90er Jahren waren wir ja alle sehr romantisch eingestellt. Wir hatten gehofft, dass das neue Leben sehr schnell kommen würde, aber es ist gar nicht gekommen. Stattdessen sind wir wieder zur Vergangenheit zurückgekehrt: Das Politbüro mit Putin an der Spitze, die Jugendorganisation Komsomol ist in einer neuen Variante wieder auferstanden, wir haben dieselbe Hymne, wir haben dieselben Gedanken. Es wird wieder von Groß-Russland gesprochen, davon, dass die Flotte und die Armee unsere besten Freunde seien - es ist secondhand, alles, was wir früher hatten, ist wieder da. In Russland ebenso wie in der Ukraine oder in Belarus.

Aber haben sich nicht die drei Länder auseinanderentwickelt?

Ja, das ist zweifellos der Fall. Es ist so, dass Russland und auch die Ukraine Freiheit und Demokratie zumindest etappenwiese versucht haben, aber letztendlich kam es doch wieder zu einer autokratischen Herrschaft. Bei uns in Belarus gab es nicht einmal diese Ansätze, wir haben die Luft der Freiheit nie atmen dürfen. Aber schauen Sie sich das Russland von heute an. Der neue Putin, der Putin der zweiten Amtszeit, ist ein ganz anderer, als der der Ersten. Er setzt auf eine Politik der harten Hand. Er setzt auch auf ein Stalin-Revival. Es gibt jede Menge Stalin-Bücher, Filme, Stalin im Fernsehen - eine Rehabilitierung auf der ganzen Linie.

Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen sind Großteils schwer traumatisiert: "Lager" und "Krieg" - "zwei Hauptworte in Russland", wie es im Buch heißt.

Den meisten Menschen geht es schlecht und die wenigen Gewinner der Entwicklungen der letzten Jahre leben ihren Wohlstand hinter hohen Zäunen aus. Es sind viele unterschiedliche Stimmungslagen und Ideen, die in einem großen Kessel kochen. Die einen wollen eine Rückkehr in die Sowjetunion, die anderen wünschen sich die Monarchie zurück und wieder andere hoffen auf eine neue Revolution.

„Ich sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers. Ich bestaune den Menschen“, schreiben Sie in der Einleitung zu Ihrem Buch. Sie haben ja einen eigenen Stil entwickelt. Diesen Arbeitsstil - wie würden Sie den beschreiben?

Ich schreibe die Geschichte nicht wie eine Soziologin oder Historikerin, ich schreibe keine Fakten auf. Ich schreibe die Geschichte der Gefühle. Und wenn ich über den 2. Weltkrieg schreibe oder den Afghanistan-Krieg oder den Zerfall des großen Sowjetischen Imperiums, dann will ich wissen, wie der einzelne Mensch das erlebt hat, welche Gefühle er in diesem Zusammenhang entwickelt hat. An diesem Buch habe ich 17 Jahre lang gearbeitet, ich habe hunderte Menschen befragt, um diese Epoche abzubilden oder anders gesagt aus ihren Worten eine Sinfonie zu komponieren. Ich suche das Material aus wie eine Journalistin und bearbeite es dann wie eine Dichterin.

Wie es aussieht steht in Weißrussland die Mehrheit der Bevölkerung noch immer hinter Lukaschenko - wie ist das zu erklären?

Das genau erklärt mein Buch. In Belarus hat der sowjetische Mensch am besten überlebt. Lukaschenko unterstützt die autoritäre Variante des Sozialismus, er bietet den Menschen mehr oder weniger stabile Lebensbedingungen aber als Preis dafür verlangt er die Freiheit. Für die meisten Menschen ist das offenbar in Ordnung. Bei den Recherchen zu meinem Buch habe ich in einem Dorf vor einem Geschäft frühmorgens eine lange Schlange von Männern angetroffen, die sich um ihren Wodka angestellt haben und ich habe versucht mit denen über Freiheit zu reden und sie haben mir nur gesagt: "Was für eine Freiheit denn? Jetzt macht das Geschäft gleich auf und du wirst sehen, wir haben alles was wir brauchen. Es gibt vier Sorten Wodka, es gibt Wurst und Bananen und alles was das Herz begehrt."

Auf dem EU-Osteuropa-Gipfel im November in Vilnius wird Weißrussland ein großes Thema sein - was erwarten Sie?

Das hatten wir schon oft. Es wird viele schöne Worte geben und man wird den Belarussen zuhören, die von ihrer Lebenssituation erzählen aber Veränderungen?? - Solange Belarus am Tropf von Russland hängt, wird es keinen Ausweg geben. In Russland haben Sie zwar auch mittlerweile die Nase voll von Lukaschenko, sie sagen er ist ein Hundesohn, aber er ist eben unser Hundesohn.

Das Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ ist im Verlag Hanser Berlin erschienen, aus dem Russischen hat Ganna-Maria Braungardt übersetzt.