Flucht und Vertreibung im 20.Jahrhundert

Die Verjagten

Verjagte, vertriebene - also flüchtende - Menschen sind kein Phänomen der jüngsten Geschichte, auch wenn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Flucht und Vertreibung zu einer Massenerfahrung wurden. Rund 80 Millionen Europäer waren Ofer von Deportation, Evakuierung oder Vertreibung.

Vor allem in Mittel-und Osteuropa waren Flüchtlinge nicht selten gezwungen, den zurückgelassenen Besitz anderer Vertriebener zu übernehmen, wie etwa im polnischen Stettin, das bis 1945 eine deutsche Stadt war. Unmittelbar nach der Vertreibung der Deutschen zogen polnische Vertriebene aus der Ukraine in deutsche Häuser ein - oft im fliegenen Wechsel.

Vertreibungswellen der totalitären Regime

Über die eigene Familiengeschichte im flüchtligsgetränkten Polen sensibilisiert, arbeitet sich der polnische Historiker Jan Piskorski an prinzipielle Fragestellungen heran: Da bis ins 20. Jahrhundert keine Definition und keine internationale Agentur existierte, die sich der Vertriebenen annahm, fehlen auch Zahlenangaben aus früheren Jahrhunderten. Oft wurden Ausgesiedelte und Verjagte euphemistisch als Migranten bezeichnet, obwohl sie heute als Flüchtlige gelten würden.

Erst durch die großen Vertreibungswellen der totalitären Regime und den durch sie ausgelösten Zweiten Weltkrieg geriet das Flüchtlingsproblem in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Zu Unrecht, wie der Autor kritisiert. Schon im 19. Jahrhundert und spätestens im Zuge des Ersten Weltkrieges, als die massiven Bevölkerungsumschichtungen im Zuge der südosteuropäischen Nationalstaatsgründungen einen Strom von Entwurzelten produzierten, trat das leitende politische Prinzip einer Spielart des Nationalismus hervor: Staatsbürgerrechte auf konstruierten ethnischen Prinzipien zu gründen, mit dem Ziel einer möglichst homogenen Bevölkerung.

Souveräne Nationalstaaten besaßen die faktische Macht, zwischen erwünschten Bürgern und unerwünschten Minderheiten zu unterscheiden, Letztere zur Emigration zu zwingen, sie mit anderen Staaten "auszutauschen" oder mit Gewalt zu vertreiben. Somit ist Europa für die Ausbildung eines politischen Prinzips verantwortlich, das exportiert und weltweit bei Massenvertreibungen im 20. Jahrhundert angewandt wurde.

Die Flüchtlingskonvention

Obwohl bereits der Völkerbund daran ging, erste Maßahmen für staatenlose Flüchtlinge zu setzen, darüber hinaus Minderheitenrechte festschrieb und international zu verankern begann, führte erst die Geschichtskatastrophe im Zuge des Zweiten Weltkrieges 1951 zu einer allgemeinen Flüchtlingskonvention, die allerdings bis 1967 auf jene größtenteils jüdischen Überlebenen des Holocaust zugeschnitten war, die heimatlos durch Europa irrten.

Als Flüchtling gilt, wer in berechtigter Furcht vor Verfolgung aus rassischen, religiösen oder nationalen Gründen lebt, wer wegen der Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder wegen seiner politischen Überzeugungen verfolgt wird; eine Verfolgung, die der Flüchtling glaubhaft zu machen hat.

So sehr diese Definition für die Flüchtlingsströme aus dem kommunistischen Osten operabel schien, so wenig scheint sie auf das Gros der heutigen Flüchtlinge zu passen. Oder lag es doch am politischen Willen des Westens, die meist gut ausgebildeten und integrationswilligen Systemflüchtlinge aus dem Osten freundlich aufzunehmen, selbst wenn auch sie oft der Wunsch nach einem besseren Leben zur Flucht trieb?

Für die heutigen, wenig ausgebildeten Flüchtlinge aus den Entwicklungsstaaten wird Europa zur unüberwindbaren Festung. Europa, so Jan Piskorski, verhalte sich wie ein europäischer Nationalstaat - ein wenig erfreuliches Urteil. In unzähligen Beispielen und wohl nicht absichtslos zeigt der Historiker, wie unscharf die Grenzen zwischen erzwungener Migration, Flucht und Vertreibung stets verlaufen sind. Auch für die betroffenen Menschen fühlt sich Flucht ähnlich an.

Das Wesentliche erfasst

Trotz der Materialfülle und der vielen, gelegentlich auch abschweifenden Beispiele, hat es der Professor für Vergleichende Geschichte Europas an der Universität Stettin fertig gebracht, das Wesentliche der Vertreibugsprobematik zu erfassen, seine These nachvollziehbar zu untermauern und gleichzeitig eine ethisch fundierte politische Botschaft auszusenden: Europa möge nicht vergessen, dass es ohne fremde Hilfe vor nicht langer Zeit noch in Barbarei hätte versinken können. Dass ein Gutteil der europäischen Bevölkerung selbst aus Verjagten besteht, sollten wir im Umgag mit heutigen Flüchtlingen stets bedenken, resümiert Jan Piskorski.

Service

Jan M. Piskorski, "Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20.Jahrhunderts", aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew, Siedler Verlag