Die Vermessung des Selbst
Mein digitales Ich
Wie viele Kilometer, wie viele Kalorien, wie viel Kaffee, wie viel Körpergewicht, wie viel Körperfett? Die Höhe des Blutdrucks, des Stresslevels und die Anzahl der Arbeitsstunden pro Tag - das alles sind Gesundheits- und Verhaltensdaten, die von der Selbstvermessungscommunity eifrig gemessen, getrackt, ausgewertet und geteilt werden. Auch Christian Grasse hat für sein Buch einen Blick in den digitalen Spiegel geworfen.
8. April 2017, 21:58
Getestet hat er eine WLAN-Waage, die nur aufgrund von Körpergewicht, Körperfettanteil und Bodymaßindex ein Fitnessprogramm im dazugehörigen Online-Portal entwirft. Dazu kamen eine App, die die tägliche Kalorienmenge misst und eine Anwendung, die die zurückgelegten Schritte zählt. Die Anfangseuphorie ist nach drei Monaten verschwunden, schreibt Christian Grasse, geblieben ist der digitale Schrittzähler.
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Mein Dienst "belohnt" mich beispielsweise, wenn ich es schaffe, am Tag 5.000 oder 10.000 Schritte zu gehen. Für jede erreichte Etappe werden mir virtuelle "Abzeichen" verliehen, die in meinem Online-Profil wie eine Medaillensammlung präsentiert werden. Genau hier kommt auch das Netzwerk ins Spiel: Mittlerweile kann ich diejenigen verstehen, die ihre persönlichen Aktivitätsdaten innerhalb der Community teilen, denn der spielerische Wettkampf um mehr Punkte und Abzeichen motiviert zusätzlich.
Unmittelbares Feedback
Christian Grasse resümiert: das wichtigste Element des digitalen Selbstvermessens ist neben der Messung an sich das unmittelbare Feedback. Denn viele Produkte und Apps wecken nicht unbedingt den inneren Schweinehund, sondern appellieren an den Spieltrieb:
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Zwar schaue ich heute nur noch ein- bis zweimal auf das Display, insgesamt hat sich meine Aktivität aber durchaus erhöht. Ich nehme grundsätzlich die Treppe, statt mit dem Aufzug zu fahren - vorausgesetzt ich bin nicht spät dran und habe es nicht eilig. Ich verzichte, wenn möglich, sogar bewusst auf Rolltreppen, was ich vorher nie getan habe. Wenn es die Zeit zulässt, habe ich es mir angewöhnt oder zumindest fest vorgenommen, Strecken bis zu 20 Gehminuten zu Fuß zurück zu legen. Grundsätzlich kann ich durchaus feststellen, dass dieser kleine digitale Begleiter mein Verhalten verändert hat und mir dabei hilft, mit alten Routinen zu brechen und neue zu erschaffen.
Die Autoren sprechen auch die Gefahren der Selbstvermessung im medizinischen Bereich an: Führt Eigenbeobachtung zu mehr Körperbewusstsein? Führen Messwerte dazu, sich früher einzugestehen, dass man medizinische Hilfe braucht? Oder führen Daten über die eigene Gesundheit zu unnötiger Unsicherheit? Führt das Vergleichen der Werte innerhalb der Community dazu, die eigenen Werte, die bis dato unauffällig waren, anzuzweifeln? Die Autoren haben die Vision von einem Arzt mit genügend Zeit und Geduld für jeden Patienten, der dank Gespräch und selbstgemessener Daten bestens über den Körper des Patienten Bescheid weiß. Ein Arzt, der dann ein Gesundheitsprogramm entwickelt, das der Patient dank Selbstvermessungs-Anwendungen besser befolgen kann.
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Das Smartphone, ohnehin ständiger Begleiter, wird durch verschiedene Gesundheits-Apps zur Dokumentation von beispielsweise Blutdruck, Schlafverhalten, emotionalen Zuständen oder Blutzucker zur zentralen Schalt- und Sammelstelle der eigenen Gesundheitsdaten. Mit diesem ausgelagerten „Körpergedächtnis“ zum Arzt zu gehen, ihm die Daten in der Sprechstunde zu zeigen, um das Gemessene auch angemessen interpretieren zu können, würde einen großen Schritt in Richtung einer modernen Medizin bedeuten.
Christian Grasse und Ariane Greiner haben für ihr Buch auch mit einem der Gründer der Quantified-Self Bewegung in Europa gesprochen: Der Designer James Burke glaubt, dass ein digital quantifiziertes und technisch vermitteltes Leben unseren Alltag verändern könnte.
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Auf eine gewisse Art entzaubern Zahlen das Leben. Das nimmt uns die Überraschung. Und bringt uns in eine neue Realität. Es ist schon seltsam, einen Menschen als Zahl in einer Datenbank zu betrachten.
Problemfall Datenschutz
Der Quantified-Self-Anhänger Burke erzählt von einer Frau, die auf elf verschiedene Arten ihr Verhalten gemessen hat. Anstatt mithilfe von Zahlen und Daten ihren Lebensstil zu optimieren, wurde sie depressiv, denn sie war nicht in der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Die Zahlen wurden für sie zum Fluch, erzählt James Burke - auch das sind Aspekte, die von Messgeräte-Herstellern und Onlinediensten beachtet werden müssen. Und auch beim gerade sehr aktuellen Themenkomplex Privatsphäre, Datensammeln und Datenmissbrauch gibt es in der Selbstvermessungswelt noch einige offene Fragen.
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Schon heute wollen Versicherungen die Familiengeschichte wissen. Was passiert, wenn sie an unsere Gen-Daten kommen und sagen: Du musst höhere Beiträge zahlen, weil deine Gene zeigen, dass du anfällig für die Krankheit XY bist? Natürlich kann man auch Versicherungen verstehen: Eine solche Krankheit zu behandeln kann ja auch mehr kosten, als der Durchschnittsbeitrag hergibt. Aber ist das fair? Diese Fragen müssen wir als Gesellschaft beantworten. Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass wir selbst die Kontrolle über unsere Daten bekommen. Heute ist es aber eher so, dass man keine Kontrolle darüber hat und man überwacht wird.
Daran, dass Daten, die unser Verhalten und unseren Körper digital widerspiegeln, eine immer größere Rolle spielen werden, führt kein Weg vorbei, sind die Autoren überzeugt. „Mein digitales Ich“ ist eine gute Einstiegslektüre für all jene, die ihrem Körper den digitalen Spiegel vorhalten möchten.
Service
Christian Grasse, Ariane Greiner, "Mein Digitales Ich. Wie die Vermessung des selbst unser Leben verändert und was wir darüber wissen müssen", Metrolit Verlag