Die Kindheitstraumata des Boris Cyrulnik

Rette dich, das Leben ruft

Missbrauch, Krankheit, Kriege - wie gehen Menschen mit traumatischen Erlebnissen um? Wie schaffen sie es, trotz ihrer erschütternden Erfahrungen zu einem "normalen" Leben zurückzukehren - oder sogar noch als gestärkte Persönlichkeit aus der Krise hervorzugehen? Psychologen sprechen in diesen Fällen von Resilienz.

Einer der führenden Vertreter der Resilienzforschung ist der französische Psychiater Boris Cyrulnik. Seine Sachbücher mit Titeln wie "Die Kraft, die im Unglück liegt" oder "Warum die Liebe Wunden heilt" finden sich regelmäßig auf den internationalen Bestseller-Listen. In seinem eben auf Deutsch erschienenen Buch "Rette dich, das Leben ruft" stellt Cyrulnik jetzt seine eigenen traumatischen Kindheitserlebnisse in den Mittelpunkt.

Als Kind den NS-Schergen entkommen

Sein Leben liest sich wie ein Roman: Als Kind entkommt Boris Cyrulnik, Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer, nur knapp den NS-Schergen - der Sechsjährige kann aus einer Synagoge im französischen Bordeaux flüchten, in die die jüdischen Bewohner gepfercht wurden, um sie ins Vernichtungslager zu transportieren. Er lebt als U-Boot, übersteht die Nazi-Herrschaft schwer traumatisiert, aber körperlich unbeschadet.

Nach dem Krieg schafft es das gequälte Kind aufs Gymnasium, studiert Medizin, wird Psychiater und schließlich gefeierter Bestseller-Autor. Sein bevorzugtes Forschungsgebiet ist das Phänomen, das ihm selbst half, die Qualen seiner Kindheit zu überstehen: Resilienz, die innere Widerstandskraft, die - wie es scheint - jedes Trauma zu überwinden vermag. Über sein eigenes Kindheitstrauma schweigt er, bis 1997 der Prozess gegen den NS-Kollaborateur Maurice Papon auch seine Vergangenheit ins Scheinwerferlicht rückt.

"Ich bin nicht zum Prozess gegen Maurice Papon geladen worden, obwohl ich der einzige Überlebende von 1.700 Juden war, die durch Papon nach Auschwitz deportiert worden sind", erzählt Cyrulnik. "Aber dieser Prozess hat dazu geführt, dass sich die Franzosen damit beschäftigt haben, dass Kinder und Erwachsene ohne Grund zum Tode verurteilt worden sind. In der französischen Kultur begann man darüber zu reden und in der Folge beschäftigten sich auch Historiker damit. Plötzlich tauchte auch mein Name in den Deportationslisten auf und ich bin gefragt worden, darüber zu berichten."

In seinem Buch "Rette dich, das Leben ruft" sammelt Boris Cyrulnik jetzt die einzelnen Puzzle-Teilchen, die er über seine Kindheit finden kann, sucht Dokumente und spricht mit Zeitzeugen, vergleicht die eigenen Erinnerungen mit denen anderer, wechselt immer wieder in die Position des Fachmannes - des Psychiaters - der sich selbst zum Forschungsobjekt macht.

"Es ist wie ein Souvenir aus der Kindheit, das ich als Psychiater oder als Neurologe untersuche", sagt Cyrulnik. "30, 40 Jahre später bringe ich den Mut auf, mich wieder an den Ort zu begeben, an dem ich verhaftet worden bin und versuche, die Architektur des realen Ortes mit der Architektur meiner Erinnerung in Einklang zu bringen."

Das Bild von der Vergangenheit

Das Gedächtnis spielte Boris Cyrunlik immer wieder Streiche. Erinnertes und Rekonstruiertes stimmten oft nur in wenigen Punkten überein. Der Psychiater spricht in diesem Zusammenhang von arrangierten Erinnerungen: von einer zurechtgelegten Vergangenheit, die dem kleinen Boris half, sein persönliches Trauma zu überwinden. Das Gedächtnis ist nicht die Rückkehr der Vergangenheit, sagt Boris Cyrulnik, es ist vielmehr das Bild, das wir uns von der Vergangenheit gemacht haben.

Gebannt von den Schreckensbildern des Erlebten zimmert sich ein traumatisiertes Kind seine eigene Welt zurecht. So werden erlebte Kriegsgräuel, Missbrauch und Schläge umgedeutet, um nachträglich Sinn zu ergeben. So passiert es auch, dass von ein- und derselben Situation unterschiedliche Erinnerungen konstruiert werden. Auch Orte werden, je nach dem Gefühl, das wir mit ihnen verbinden, im Gedächtnis verändert und angepasst.

"Als ich geflohen bin aus der Synagoge, habe ich die Erinnerung wie im Film 'Panzerkreuzer Potemkin', in dieser legendären Treppenszene, wo dieser Kinderwagen runterfällt und man ganz genau weiß, dass dieses Baby sterben wird. In meiner Erinnerung sah ich mich so eine riesige Treppe herunterlaufen. Ich war in Todesgefahr. Als ich diese Synagoge wiedergesehen habe, gab es nur drei kleine Treppchen. Es korrespondierte also überhaupt nicht mit der Realität, aber emotional gesehen hatte ich das Gefühl, die Treppe aus der Szene des Films 'Panzerkreuzer Potemkin' heruntergerannt zu sein."

Die Scham der Opfer

Was die meisten jugendlichen Trauma-Opfer eint: Sie wirken lethargisch, stumm, abgestumpft, obwohl ihre Gefühlswelt in Aufruhr ist. Im Gegensatz zu den Aggressoren empfinden sie, die Opfer, Scham - ein Grund, warum sie über das Erlebte oft jahrelang schweigen.

Auch Boris Cyrulnik beschreibt in seinem Buch dieses Schamgefühl, das ihn, den Überlebenden, noch bis ins Erwachsenenalter quälte. Der Vater, ein Widerstandskämpfer, die Mutter, die ihren Sohn vor der eigenen Deportation bei der Fürsorge abgab, um ihn zu beschützen - beide starben im Vernichtungslager Auschwitz. Er, der Sohn, fühlte sich mitverantwortlich für ihren Tod. Hatte er nicht kurz vor deren Verschleppung in einem Park Süßigkeiten von deutschen Soldaten akzeptiert? Hatte er die Eltern damit etwa verraten?

"Als ich im Alter von acht Jahren erfahren habe, dass meine Eltern tot sind, glaubte ich, sie wären gestorben, weil ich ihnen nicht gehorcht und mit dem Soldaten gesprochen habe", erinnert sich Cyrulnik. "Während des Krieges sagte man mir auch, sag niemandem deinen Namen: Cyrulnik - ein russischer Name. Und alle sagten mir, in dem Moment, in dem du deinen Namen erwähnst, bist du tot und die, die du liebst, sterben wegen dir."

Wichtiger Weg

Als Boris Cyrulnik nach dem Krieg beschloss, Psychiater zu werden, verband sich damit auch der Wunsch, seinen eigenen Schmerz zu behandeln. Damals, als Elfjähriger, war er überzeugt, dass ein Seelenarzt alle Wunden heilen kann, schreibt der Bestsellerautor in seiner Lebenserinnerung. Ob er heute noch daran glaubt?

"Nein, nein. Ich habe nur zwei, drei Dinge verstanden, nicht viel, und hoffe, auch ein paar Menschen geholfen zu haben. Aber dennoch, es war sehr wichtig, dass ich diesen Weg gegangen bin, dass ich über diesen Beruf in meinem eigenen Leben Sinn gefunden habe. Insofern hat sich dieser Weg schon gelohnt."

"Rette dich, das Leben ruft" - Boris Cyrulniks neuestes Buch ist keine einfache Lektüre, auch wenn der Psychiater jedweden Fachjargon vermeidet. Die häufigen Erzähl-Sprünge erfordern die volle Aufmerksamkeit und die biografischen Versatzstücke ergeben erst am Schluss ein ganzes Bild. Es ist diese persönliche Geschichte, die tief berührt und die den Leser, die Leserin voller Hoffnung zurücklässt.

Service

Boris Cyrulnik, "Rette dich, das Leben ruft", übersetzt von Hainer Kober, Ullstein Verlag